Dustlands - Der Herzstein: Roman (German Edition)
waren, genau hier, überall um uns herum. Ich hätte es mir nicht vorstellen können. Bis ich eines Morgens, eines herrlichen, unvergesslichen Morgens die Musik gehört habe. Der Wind trug sie zu mir, sie wisperte mir zu, führte mich zu dieser Tür im Hügel, die Treppe hinab, in jenen Raum. Und dort hatte ich die Vision, als der neue Tag anbrach. Sie strömte durch meinen Körper, genauso wie ihr es heute gesehen habt. Mutter Erde hat mir und durch mich die unvorstellbaren Herrlichkeiten unserer Welt offenbart, wie sie früher einmal war.«
Während DeMalo redet, guckt er von einem zum anderen, sieht jedem kurz in die Augen. Als ob er nur jeweils zu ihm sprechen würde. Die Verweser beugen sich zu ihm vor. Ihre Gesichter leuchten vor Hoffnung, vor Glauben. Plötzlich merk ich, dass es mir genauso geht.
Er redet weiter.
»Und sie hat mir mein Schicksal offenbart. Du bist der Wegbereiter, sagte sie mir. Ich habe dich auserwählt, mich zu heilen, zuerst hier in New Eden. Du wirst nur die gesündesten, klügsten, fleißigsten Arbeiter auswählen, damit sie dir bei dieser gewaltigen Aufgabe helfen. Unsere Mutter Erde hat mich an jenem Morgen auserwählt, und nach ihrem Beispiel habe ich euch auserwählt. Es ist unser Lebenswerk, sie zu heilen. Meines, eures, das eurer Kinder, das eurer Kindeskinder. Es ist das Werk vieler Leben, und es wird viele Generationen dauern. Es ist das größte Werk, das je unternommen worden ist. Diesmal werden wir ihr Gerechtigkeit widerfahren lassen. Wir werden nicht zu nahe an die Sonne heranfliegen; die Luft gehört den Vögeln. Die Erde und das saubere Wasser sind Lohn genug für uns, und die teilen wir in Eintracht mit den Tieren, die ebenso viel Recht haben, hier zu sein, wie wir. Denkt an diesen Tag – wenn euer Körper erschöpft und euer Geist schwach ist –, denkt an meine Worte, aber vor allem bewahrt diese wunderbare Vision der Welt, wie sie war, fest im Herzen. Die Vision, die ich euch gezeigt habe. Wir sind die Auserwählten, meine Freunde, ihr und ich. Dies ist der Anbruch eines neuen Tages auf Erden.«
Die Verweser gehen zu ihm, immer zu zweit, Junge und Mädchen. Er berührt jeden an der Stirn, viermal, an den Spitzen des Kreuzes von ihrem Brandmal, und sagt: »Erde, Wasser, Luft und Feuer, wir dienen der Erde, unserer heiligen Mutter.« Er küsst sie auf ihre Brandmale. Dann legt er ihre Hände ineinander, und sie gehen über die Wiese weg.
DeMalo nickt den beiden Tonton zu, und sie gehen hinter den Verwesern her. Am Ende sind nur er und ich übrig auf dem Gras mit dem blauen Himmel über uns. Der Tag umarmt uns, die kühle, frische Luft fängt an sich zu erwärmen.
»Wo gehen sie hin?«, frag ich.
»Sie beginnen ihr neues Leben. Die Arbeit für das gemeinsame Wohl der Erde und der Menschen auf Erden.«
Auriels Lager. Die Erschöpften und Ungewollten, die sich am Ufer des Snake River drängen. Ich denk an gestohlenes Land und Billy Six mit dem Nagel im Hals.
»Nicht das Wohl von allen Menschen«, sag ich.
»Wer sind die besten Verweser der Erde?«, fragt er. »Die Alten und Schwachen? Die Kranken? Oder die Jungen und Starken? Wessen Kinder werden der Erde am besten dienen? Die des Abschaums von Hopetown? Schwache Kinder von schwachen Menschen? Oder die Kinder dieser Leute?«
»Ich weiß nicht«, sag ich, »da hab ich noch nie drüber nachgedacht.«
»Die Schätze der Natur sind kostbar«, sagt er, »knapp. Es gibt nicht genügend sauberes Wasser oder gutes Land für alle. Das weißt du.«
Wir setzen uns ins Gras. Es kitzelt mich an den nackten Beinen. Er lehnt sich zurück und stützt sich auf die Ellbogen. Seine Haare glänzen wie ein Krähenflügel.
»Ich wünschte, ich hätte das nicht gesehen«, sag ich. »All die wunderbaren Sachen. Ich wünschte, ich hätte nicht gewusst, wie es mal gewesen ist.«
»So ist es mir auch ergangen, als ich es zum ersten Mal gesehen habe«, sagt er. »Aber ich konnte nicht fortgehen. Ich bin immer wieder zurückgekehrt, Morgen für Morgen, und immer kam diese Vision, immer wieder, bis ich von ihr besessen war.«
»Ich werd das nie vergessen«, sag ich. »Aber es ist schon lange weg. Verloren. Und daran kann ich nichts ändern.«
»Aber ja doch!« Er kniet sich vor mich und nimmt meine Arme. »Du hast bereits angefangen, siehst du das nicht? Du hast Hopetown nicht nur überlebt, du hast es erobert. Du hast es zerstört, und dasselbe hast du in Freedom Fields und am Pine Top Hill getan. Du hast Pinch getötet. Du hast
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