Dustlands - Der Herzstein: Roman (German Edition)
gelegen. Das musst du dir eingebildet haben. Oder du hast es geträumt.«
»Nein, nein, hab ich nicht.«
»Komm schon, Saba, denk doch mal nach. Wie wahrscheinlich ist es, dass Tracker hier auftaucht, mitten im Nirgendwo? Crosscreek muss Wochen von hier weg sein.«
»Das weiß ich.«
»Also, wie wahrscheinlich ist das?«
»Weiß nicht. Ich … nicht besonders, schätz ich.«
»Schon eher ausgeschlossen«, sagt Lugh. »Und was ist damit?«
Lugh hält das lose Ende von einem Stück Nesselschnur hoch, die an seinem rechten Knöchel festgeknotet ist. Ich guck nach unten. Ich hab auch so ein Stück um den Knöchel, nur um den linken. Die Schnur ist mit einem Messer durchgeschnitten worden, dicht an meinem Stiefel, sauber und ordentlich. Ich starr die abgeschnittene Schnur an. Ich hatte ganz vergessen, dass er und ich neuerdings nachts zusammengebunden sind. In letzter Zeit lauf ich im Schlaf rum. Uns zusammenzubinden war Lughs Idee, damit ich nicht weglauf und in Schwierigkeiten komm. Zu meinem Besten, hat er gesagt. Zu meinem Schutz.
»Ich bin wach geworden«, sagt er, »die Schnur ist durchgeschnitten und du bist weg gewesen.«
Nero kommt angeflattert und landet auf meinem Kopf. Ich zuck zusammen. Setz ihn auf meine Schulter. »Ich hab wohl wieder geschlafwandelt«, sag ich.
Er presst die Lippen zusammen. »Du willst mir erzählen, dass du dich im Schlaf so leise bewegt hast? Dass du die Schnur durchgeschnitten hast, ohne mich zu wecken?«
»Was? Glaubst du etwa, ich hab das mit Absicht getan?«
»Sag du’s mir.«
»Ich – ich erinnere mich nicht dran, dass ich die Schnur durchgeschnitten hab. Ich weiß nicht, wie ich hierhergekommen bin.«
»O Mann, wer weiß, vielleicht hast du wirklich geschlafwandelt.« Er schüttelt den Kopf. »Herrgott, Saba.«
»Schau«, sag ich, »ich erinner mich nur, dass ich hier jagen war, und da ist dieser Windspringer, der vor einem Wirbelsturm herläuft – omeingott, Lugh, so was hast du noch nicht gesehen. Da ist so eine … lange Reihe von Windhosen gewesen, kleine, höchstens zwölf Meter hoch, die haben sich von Osten rangewälzt, genau da sind sie langgefegt. Es ist unglaublich gewesen!« Ich zeig auf die Ebene vor uns.
Lugh und ich gucken auf die kahle Ebene. Der Vormittagshimmel ist so klar, dass man bis zum Horizont, wenn nicht bis zur nächsten Woche, gucken kann. Keine ausgerissenen Büsche. Keine aufgewirbelte Erde. Kein einziges Anzeichen dafür, dass da ein Sturm durchgezogen ist.
»Da ist ein Sturm gewesen«, sag ich, »wirklich. Nero hat ihn auch gesehen!«
Ich guck zu Nero, als könnte der plötzlich anfangen zu reden und mir Rückendeckung geben. Aber er ist mit Krähensachen beschäftigt, zupft am aufgerissenen Fleisch von einem der Wölfe, schlägt sich den Magen voll.
»Tja, jedenfalls, ich hab ihn fast gehabt«, sag ich, »den Windspringer, aber dann ist dieses Wolfsrudel da aus dem Nichts aufgetaucht, und zwei von ihnen – die zwei da – sind auf mich zu, und dann ist Tracker aufgetaucht, und sie haben angefangen zu kämpfen … und dann bin ich … dann bin ich gefallen und hab mir den Kopf angestoßen, und als ich wieder wach geworden bin, bist du hier gewesen und … das ist alles.«
Wir starren uns an.
Lugh. Golden wie die Sonne selbst. Seine Haut, seine langen Haare, die ihm in einem Zopf bis auf die Taille hängen. Augen, so blau wie ein Frühlingshimmel. So anders als ich mit meinen dunklen Haaren und Augen. Ma hat immer gesagt, ich wär die Nacht, und Lugh wär der Tag. Das Einzige, was bei uns gleich ist, ist die Geburtsmondtätowierung auf unserem rechten Wangenknochen. Pa hat sie selbst gemacht, damit man sieht, dass wir was Besonderes sind. Zwillinge, die an Mittwinter bei Vollmond geboren sind. Das ist selten.
Lugh schüttelt den Kopf. Geht zu meinem Köcher, der am Boden liegt, neben meinem Messer. Er hebt die Sachen auf und pfeift dabei nach den Pferden, und sie kommen vorsichtig den Hang runter auf uns zu. Hermes und Rip, Tommos Pferd, auf dem Lugh hierhergeritten ist. Lugh kommt zurück und gibt mir meine Waffen.
»Ein voller Köcher«, sagt er. »Das bedeutet, du hast nicht einen einzigen Pfeil abgeschossen. Nicht auf den Windspringer, nicht auf die Wolfshunde. Wie kommt’s?«
Ich will antworten. Brems mich. Fast hätt ich’s ihm erzählt. Von dem Zittern und der Atemlosigkeit und … von allem anderen. Die Worte sind schon fast draußen. Aber ich kann’s nicht erzählen. Ich darf nicht. Ich kann Lugh nicht
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