Dustlands - Der Herzstein: Roman (German Edition)
gibt mir einen vollen Köcher. »Ich mach mich besser auf den Weg«, sag ich.
Auriel hält Hermes’ Kopf fest, während ich aufsteig. Musik schwebt heran, schaukelt auf der warmen Abendbrise. Das kratzig-süße Flüstern eines Walzers.
»Es gibt eine schnellere Strecke«, sagt sie. »Sie ist schnell, aber nicht sicher.«
»Erklär’s mir.«
»Von hier aus genau im Norden stößt du auf die alte Abwrackerstraße, die oben am Rand vom Ödland lang verläuft. Wenn du schnell reitest, wenn du nicht anhältst, könntest du bei Sonnenaufgang am Yann Gap sein. Da endet die Straße. Wenn du erst mal über die Schlucht bist, bist du in Tonton-Gebiet. Im äußersten Nordwesten von New Eden. In die Richtung reist niemand. Du kannst ungesehen reinschlüpfen.«
»Von einer Nordstraße hab ich noch nie gehört.«
»Weil die, die diesen Weg nehmen, nur selten ans Ziel kommen. Sie wird der Geisterweg genannt. Es gibt alle möglichen Geschichten darüber. Über die Geister der Abwracker, die da langreiten und Rache für ihr verlorenes Leben nehmen wollen. Seltsame Tiere. Schädelsammler.«
»Ich riskier’s«, sag ich.
»Was soll ich Lugh sagen?«, fragt sie. »Er wird dir hinterherreiten, das ist dir doch klar?«
»Deshalb brauch ich einen Vorsprung. Halt ihn hin. Lüg ihn an. Tu, was nötig ist. Verschaff mir bloß ein bisschen Zeit.«
Ich will losreiten, aber sie greift mir in die Zügel.
»Pass auf deinen Bruder auf. Er ist … Manche Wunden kann man nicht sehen, weil sie zu tief liegen. Das sind die gefährlichsten. Und denk an das, was ich über Tommo gesagt hab, er –«
»Dafür hab ich jetzt keine Zeit, Auriel. Lass los.«
»Es ist wichtig, du musst wirklich –«
»Ich hab gesagt, lass los!«
»DeMalo«, sagt sie.
Mein Magen krampft sich zusammen. »Was ist mit ihm?«
»Er ist der Wegbereiter«, sagt sie. »Du wirst ihm wieder begegnen. Du bist nicht bereit dafür.«
Meine Handflächen werden feucht. »Ich versuch, ihm aus dem Weg zu gehen.«
»Saba, du findest gerade erst heraus, wer du bist, was du tun kannst, wer du sein kannst. Denk dran, im Zelt, in deinem Wahrtraum … du hast recht, DeMalo kennt die Schatten. Seine eigenen, deine, die von uns anderen. Wir haben alle welche. Sie sind ein machtvoller Teil von dir, aber du musst lernen –«
Sie bricht ab. Ich seh ihr an, dass sie wieder ihren Stimmen lauscht, ihren elementaren Führern. Sie nickt. »Die Zeit ist aus den Fugen. Die Welt dreht sich zu schnell weiter. Du wirst das allein tun müssen. Sei sehr vorsichtig.«
»Ich muss los.«
Nero fliegt vom Zaun auf. Er kreist über uns, ein stiller Späher in der Nacht.
Auriel lässt die Zügel los. Sie tritt zurück, zieht den Schal eng um sich.
»Halt auf dem Geisterweg nicht an«, sagt sie. »Egal was ist.«
»Wiedersehen, Auriel.«
»Und verlier nicht aus den Augen, woran du glaubst«, sagt sie. »Sonst sind wir alle verloren.«
Ich nick ihr zum Abschied zu und reite los. Ich wende mich genau nach Norden. Und ich guck mich nicht mehr um.
N ach eineinhalb Meilen fliegt Nero in einem Kreis zurück. Er saust an mir vorbei und ruft und ruft und ruft.
Ich dreh mich um, um nachzugucken, warum er so einen Aufstand macht.
Aus der Dunkelheit kommt Tracker angelaufen. Er holt Hermes ein.
Tracker. Zuletzt gesehen, als er an einer Pappel angebunden war. Von seiner Leine keine Spur.
Er gibt keinen Mucks von sich. Kein Bellen, kein vorwurfsvoller Blick. Er lässt sich einfach neben Hermes in einen stetigen Trott fallen.
Mir geht das Herz auf. Wird ganz leicht. Schwillt an in meiner Brust. Was hat Auriel noch gleich gesagt?
Er läuft jetzt mit dir. Der Wolfshund und die Krähe. Passende Begleiter für eine Kriegerin.
Meine Krähe. Und jetzt – anscheinend – auch mein Wolfshund.
Man kann ihn nicht zurücklassen. Es ist falsch gewesen, dass ich es versucht hab. Ich werd’s nicht noch mal tun. Ich hätte wissen müssen, dass er sich nicht anbinden lässt.
Der Geisterweg
W ir reiten durch eine Gegend mit steinigen Ebenen, von Felsen eingekesselten Seen und dichten Fichtenwäldern. Eine Gegend, in der die Luft drückend und beklemmend ist. Ein Ort undurchdringlicher Dunkelheit. Ein Ort des Uralten.
Die Nacht ist pechschwarz. Keine Sterne. Der Mond scheint weiß und grimmig. Alle meine Nerven summen wachsam. Hermes ist unruhig. Wenn die Zügel lockerer wären, würde er losjagen. Aber so gern ich das möchte, ich lass ihn gleichmäßig laufen. Gleichmäßig, immer schön gleichmäßig.
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