Dustlands - Die Entführung
ich.
Dann seh ich es selber. Das, was sie alle angucken.
Wir stehen am Rand von einem ehemaligen Bergsee. Damals in der Abwrackerzeit ist das bestimmt eine große kühle Wasserfläche gewesen. Eine willkommene Abkühlung für müde Wandererfüße. Davon ist allerdings nichts mehr zu sehen.
Jetzt liegt ausgedörrte, verbrannte Erde vor uns, überall von großen Spalten und Rissen durchzogen. Staubtrocken. Endlos.
Mir rutscht das Herz in die Hose. Ich leck mir über die Lippen.
Ich kann die andere Seite nicht sehen, sag ich.
Sie ist da, sagt Jack. Eigentlich müsste sie jetzt auch schon in Sicht sein.
Bei der Hitze können wir eben nicht schneller gehen, sag ich.
Ich weiß, sagt Jack, ich weiß. Es ist meine Schuld. Wir hätten früher losziehen müssen oder … Verbittert packt er sich in die Haare. Verdammt, sagt er. Ich hab gedacht, wir haben genug Zeit. Er guckt Ike an. Was meinst du?
Vielleicht schaffen wir’s bis zur anderen Seite, bevor’s dunkel wird, sagt Ike. Aber ich seh ihm an – ich hör an seiner Stimme, dass er das eigentlich nicht glaubt.
Ich versteh nicht, was das Problem ist, sagt Epona mit gerunzelter Stirn. Wir reiten da einfach rüber. So schnell wir eben können.
Ja, sag ich, und Ash nickt.
Wir können da unten nicht schnell reiten, sagt Jack. Da sind zu viele Risse, zu viele Stellen, wo ein Pferd stolpern kann.
Na gut, sag ich, dann eben langsam und vorsichtig. Und wenn’s dunkel wird, bevor wir drüben sind, schlagen wir einfach ein Lager auf.
Das geht nicht, sagt Ike.
Ich guck Jack an. Dann Ike. Die beiden gucken sich an, die Gesichter grimmig.
Was soll das?, frag ich. Wir müssen rüber, bevor es dunkel ist, wir können unterwegs kein Lager aufschlagen … das gefällt mir nicht.
Da sind wir schon zu zweit, sagt Ash.
Zu dritt, sagt Epona.
Ich verschränk die Arme vor der Brust. Verdammt nochmal, sagt es uns einfach!, sag ich. Warum müssen wir drüben sein, bevor es dunkel ist?
Ike breitet die Arme aus. Sag du es ihnen, Jack, sagt er.
Jack flucht leise. Guckt zu Boden. Dann zieht er sich das Hemd übern Kopf.
Emmi schnappt nach Luft. Neben mir hör ich Ash zischend einatmen. Ich hab das ja schon gesehen, in Hopetown, aber mein Magen krampft sich trotzdem zusammen.
Die drei langen rosa Narben ziehen sich über seine Brust, von der rechten Schulter bis runter zur linken Hüfte. Jack bleibt einen Augenblick so stehen. Dann dreht er sich um, damit wir seinen Rücken sehen können. Über sein rechtes Schulterblatt ziehen sich lauter kleinere Narben.
Er dreht sich wieder um und zieht das Hemd an.
Beantwortet das eure Fragen?, fragt er.
W as hat das getan?, flüstert Emmi.
Es ist dunkel gewesen, sagt Jack, darum hab ich’s nicht gut sehen können.
Sie werden Höllenwürmer genannt, sagt Ike.
Würmer mit Klauen, sagt Epona. Und offenbar ziemlich große Würmer. Von so was hab ich noch nie gehört.
Und so was hast du auch noch nie gesehen, sagt Ike.
Was sind das für Tiere?, fragt Ash.
Angeblich haben sie vor langer Zeit, damals in der Abwrackerzeit, irgendso ein Gift in den See gekippt, sagt Ike. Hat da drin alles umgebracht. Bis auf die Würmer. Die sind größer geworden.
Du sagst, sie, sagt Epona. Das heißt, es gibt mehr als einen. Wie viele mehr?
Sehr viele, sagt Jack.
Das wird ja immer besser, sag ich.
Schweigen. Dann: Damit ist es entschieden, sag ich. Ich geh allein weiter.
Tja, jetzt reden sie alle auf einmal, sogar Tommo, einer lauter als die andere, immer lauter, bis ich mir die Ohren zuhalte und brülle: Haltet die Klappe, ja? Haltet einfach … die Klappe!
Sie gehorchen. Alle gucken mich an.
Es ist mein Bruder, sag ich. Und ich will keinen von euch dabei haben, wenn wir’s damit – ich zeig auf Jack – zu tun kriegen, bevor wir auch nur in Freedom Fields ankommen. Aber ich kann’s mir nicht leisten, den Berg wieder runterzuklettern und es morgen neu zu versuchen. Es ist schon fast Mittsommer. Wenn ich jetzt sofort losgeh, bin ich vielleicht auf der anderen Seite, bevor’s dunkel ist.
Du meinst, allein wärst du schneller, sagt Ike.
Genau, sag ich. So, Emmi, du – Emmi, was treibst du da, verdammt?
Während ich geredet habe, ist Emmi auf dem Boden rumgekrabbelt. Jetzt steht sie auf und hält uns die Hände hin. In der einen Hand hat sie einen Haufen weiße Kiesel und in der anderen schwarze.
Weiß bedeutet, wir gehen mit dir, sagt sie. Schwarz heißt, wir gehen nicht mit. Wovon wir hinterher am meisten haben, das tun wir.
Ich
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