Dustlands - Die Entführung
hab für so was jetzt keine Zeit, Emmi, sag ich, ich –
Halt die Klappe, Saba, sagt sie.
Ich bin so verdutzt, dass ich gehorch.
Sie legt die Kiesel in zwei Reihen auf die Erde. Dazwischen lässt sie ein bisschen Platz.
Jeder hat eine Stimme, sagt sie. Jeder sucht sich einen Kiesel aus und legt ihn in die Mitte. Wenn alle gewählt haben, zähl ich sie. So, jetzt dreht euch rum, damit keiner sieht, was die anderen tun.
Keiner rührt sich vom Fleck. Wir stehen da und glotzen sie an.
Ich hab gesagt, dreht euch um!, sagt sie. Tommo, du als Erster.
Wir anderen drehen uns um. Ike steht neben mir. Das liegt offenbar in der Familie, murmelt er.
Emmi sagt allen, wann sie mit Wählen dran sind. Am Ende bleibe ich als Einzige übrig.
Was ist mit mir?, frag ich.
Du darfst nicht mit abstimmen, sagt sie. Okay, ihr könnt euch wieder umdrehen.
In der Mitte liegen sechs weiße Kiesel. Kein einziger schwarzer.
Ich kauer mich hin. Nehm die Kiesel und halt sie in der Hand. Sie fühlen sich verlässlich an, warm. Ich guck zu ihnen hoch, guck mir ein Gesicht nach dem anderen an. Und es kommt mir vor, als würd ich sie zum ersten Mal sehen. Jack, Ike, Emmi, Epona, Ash und Tommo. Alle sind sie bereit, mit mir über den ausgetrockneten See zu wandern. Mit mir in die Dunkelheit zu ziehen und sich dem zu stellen, was da lebt.
Plötzlich hab ich einen dicken Kloß in der Kehle.
Ihr müsst das nicht tun, sag ich.
Epona zuckt die Achseln. Wir sind deine Freunde, Saba, sagt sie. Wir wollen dir helfen.
Ich wünscht, ihr würdet das nicht wollen, sag ich.
Tja, so ein Pech, sagt sie. Wir lassen dich einfach nicht im Stich.
Wenn das so weitergeht, sagt Ash, fang ich noch an zu flennen. Also, falls wir dann hier fertig sind, würde ich sagen, wir machen uns auf den Weg.
J ack lässt uns die Hufe von unseren Pferden mit Tüchern umwickeln, damit die Würmer nicht hören, dass wir über ihnen laufen. Dann gehen wir los auf den ausgetrockneten See. Wir gehen, so schnell wir können. Aber wie Jack gesagt hat: Wir müssen die Pferde vorsichtig an all den großen und kleinen Rissen und Spalten im Boden vorbeiführen. Dadurch sind wir ziemlich langsam. Wir reden nicht, versuchen, kein Geräusch zu machen. Aber die Pferde spüren irgendwas. Sie sind nervös. Schon bald scheuen sie sogar vor ihren eigenen Schatten zurück.
Und wir schaffen es nicht. Wir kommen nicht ans andere Ende, bevor es dunkel wird. Obwohl es die Jahreszeit der langen Tage ist, haben wir erst die Hälfte vom Weg geschafft, als das Licht anfängt, schwächer zu werden.
Jack bleibt stehen. Guckt zum Himmel hoch. Wartet, bis wir anderen zu ihm aufholen.
Wenn das Licht erst einmal schwächer wird, sagt er, geht es schnell. Wir müssen rechtzeitig vorbereitet sein.
Mein Magen krampft sich zusammen. Vorbereitet worauf?, frag ich.
Höllenwürmer schlafen am Tag, sagt er, tief drin im Berg. Wenn es Nacht wird, kommen sie aus den Spalten im Boden raus und suchen nach Nahrung. Vielleicht haben wir ja Glück. Wenn sie sich die Bäuche schon gestern Abend oder vor ein paar Tagen vollgeschlagen haben, bleiben sie vielleicht unten und schlafen weiter. Aber wenn wir Pech haben –
Dann kriechen die Würmer aus ihren Spalten, sobald es dunkel ist, sagt Ike. Dann kriechen sie aus ihren Spalten, und im Nu wimmelt es überall von Würmern, so schnell könnt ihr nicht gucken.
Das hättet ihr uns sagen müssen, bevor wir losgegangen sind, sag ich.
Ich hab gehofft, das wär nicht nötig, sagt Jack. Aber hätte es was geändert? Für irgendeine von euch?
Alle schütteln die Köpfe.
Nein, verdammt, sagt Emmi.
W ir beschließen, die Pferde freizulassen. Wir wickeln die Tücher von ihren Hufen ab und schicken sie auf den Weg zum anderen Ufer. So schaffen sie es vielleicht doch noch heil bis auf die andere Seite. Wenn die Würmer erst mal draußen sind, ist es damit vorbei.
Ich lehn mich an Hermes’ Kopf. Streichel ihm über die weiche Nase.
Saba, sagt Jack. Lass ihn jetzt gehen.
Ich guck ihm zum letzten Mal in die klugen braunen Augen. Danke, flüster ich. Dann tret ich zurück. Na los, sag ich.
Er trottet ein paar Schritte. Bleibt stehen. Dreht sich zu mir um. Ich heb zum Abschied die Hand. Er wirft den Kopf zurück und wiehert. Dann läuft er den anderen nach.
Ich guck ihm hinterher und weiß, da geht meine Hoffnung darauf, noch vor Mittsommer bei Lugh zu sein. Ich würd gern jemand die Schuld an dem Schlamassel geben. Aber Jack oder Ike oder sonst jemand anzuschreien
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