Dystopia
konnte die länger werdenden Schatten sehen, die sich im Abendrot von der Upper West Side aus über den Park schoben.
Garner legte die Hand auf einen riesigen Globus neben dem Fenster, der auf einem schön geschnitzten Walnussgestell ruhte, und drehte ihn geistesabwesend. Eine unbewusste Gewohnheit vielleicht, überlegte Travis, etwas, das er oft tat.
«Audra wurde mit einem ungewöhnlichen Anliegen vor dem Ausschuss vorstellig, hinter geschlossenen Türen. Sie bat um die Befugnis, gewisse geheime Militärdokumente einsehen zu dürfen, die sie für ihre Doktorarbeit verwerten wollte. Im Gegenzug sollte ihre Doktorarbeit dann mit dem Vermerk ‹geheim› versehen und nur bestimmten Leuten zugänglich gemacht werden. Unseren Leuten.»
«Was war denn das Thema ihrer Doktorarbeit?», fragte Paige.
«Funkübertragungen im Niederfrequenzbereich. Wellen mit extrem niedrigen Frequenzen, die bei der Kommunikation mit U-Booten benutzt werden.»
«Klingt nicht gerade wie ein Thema, mit dem sich eine Doktorandin in Flug- und Raumfahrttechnik beschäftigen würde», sagte Paige.
«In ihrem Fall war es aber so. Sie forschte über Möglichkeiten, Niederfrequenzsignale per Satellit zu übertragen.»
Paige zog verblüfft die Augenbrauen in die Höhe.
Bethany schnaubte, halb abfällig, halb belustigt. «Ist doch lächerlich. Niederfrequenzsender sind über dreißig Meilen lang. Wie sollte man so eine Riesenanlage in die Umlaufbahn befördern?»
«Und zu welchem Zweck überhaupt?», ergänzte Paige. «Die Funktechnik im Niederfrequenzbereich funktioniert doch seit fünfzig Jahren reibungslos, so wie sie ist.»
Travis konnte auf der spiegelnden Fensterscheibe sehen, dass Garner der Anflug eines Lächelns übers Gesicht huschte. Dann endlich drehte sich ihr Gastgeber wieder zu ihnen um.
«Die Geschichte geht noch weiter», sagte er. «Audra ging es nicht um die Kommunikation mit U-Booten. Sie wollte diese Signale auf Menschen anwenden.»
Paige und Bethany blickten ebenso fragend und perplex drein wie Travis.
Garner ging zu dem großen Bürosessel an seinem Schreibtisch hinüber, drehte ihn zum Couchtisch herum und ließ sich hineinsinken.
«Mit der Entwicklung der Niederfrequenztechnik haben wir in den Fünfzigern angefangen, als klar wurde, dass U-Boote im Kalten Krieg eine entscheidende Rolle spielen würden. Wir haben die Sender in möglichst abgelegenen Regionen errichtet. Ein bekannter Standort befindet sich auf der Oberen Halbinsel in Michigan. Ein anderer, weniger bekannter, in Nordkanada. Bei der Errichtung der verflixten Dinger waren erhebliche technische Hürden zu überwinden. Man bedenke, was diese Sender leisten mussten: Signale in alle Richtungen funken, die stark genug waren, um U-Boote überall auf der Welt zu erreichen, in Hunderte Metern Tiefe in leitfähigem Salzwasser. Schon erstaunlich genug, dass das am Ende überhaupt funktionierte. Doch auch, als die Sender dann funktionierten, gab es … andere Probleme. Gesundheitliche Auswirkungen auf die Mitarbeiter, die in der Umgebung der Sender wohnten, wo die Signale besonders konzentriert waren. Wahrnehmungsstörungen in einigen wenigen Fällen, vor allem aber Beeinträchtigungen des Gemütszustandes. Mit ähnlichen Symptomen wie bei manisch-depressiven Erkrankungen, in heftigerer Ausprägung allerdings. Wesentlich heftiger mitunter. Vereinzelt mussten Mitarbeiter regelrecht gebändigt werden, weil sie – anders kann man es nicht nennen –
high
waren. So jedenfalls haben sie es hinterher selbst beschrieben. Die Kehrseite der Medaille waren schwere Depressionen. Bis hin zum Selbstmord. Es haben sich etliche Mitarbeiter das Leben genommen.»
«Wir nutzen die Niederfrequenztechnik aber bis heute», wandte Bethany ein. «Bestehen diese Probleme weiterhin?»
Garner schüttelte den Kopf. «Die hat man innerhalb der ersten zehn Jahre in den Griff bekommen. Indem man die Ursachen isoliert hat. Bei zu hoher Dosierung waren gewisse Wellenlängen gefährlich. Ebenso gewisse Entfernungen vom Sender, aufgrund von Oberwellen. All solche Sachen. Das haben die Ingenieure ausgetüftelt und dann abgestellt.» Er verzog den Mund zu einem Lächeln, das jedoch alles andere als fröhlich wirkte. «Inzwischen aber hatten manche Leute begonnen, die Nebenwirkungen unter ganz anderen Aspekten zu betrachten. Überlegten, wie man sie eben nicht abstellen, sondern verstärken könnte. Wie man sie kontrollieren und am Ende sogar als Waffen einsetzen könnte.»
«Himmel», sagte
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