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E-Book statt Papierkonserve

E-Book statt Papierkonserve

Titel: E-Book statt Papierkonserve Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marlies Michaelis
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Höhleneingang nicht nur abgeführt, sondern ermordet. Vielleicht wäre es doch besser, auf der Bank zu verharren. Doch nachdem er einige weitere Minuten dem Chor gelauscht hat, steht sein Entschluss endgültig fest: Wenn es jenseits der Höhle etwas zu entdecken gibt, dann möchte er es sehen – mit allen Konsequenzen.
    Er nimmt den Rhythmus wieder auf und bearbeitet die Fesseln weiter. Schließlich ist es so weit: Stöcke und Seil gleiten langsam seinen Rücken hinab und er kann den Kopf freier bewegen als zuvor. Vorsichtig wendet er ihn zu beiden Seiten hin und erweitert so seinen bisherigen Gesichtskreis. Da sieht er es: Hinter den Reihen der Sitzenden laufen Menschen – Sklaven vielleicht – über ein paar Felsbrocken und halten Gegenstände in die Höhe. Wiederum hinter ihnen brennt ein großes Feuer. Es bewirkt, dass die hochgehaltenen Gegenstände Schatten an die Wand werfen – jene Gebilde, die er zusammen mit seinen Banknachbarn benannt hat. Man hat ihn getäuscht; alle, die dort sitzen, werden getäuscht. Sie sehen nur die Schattenbilder und kennen die Gegenstände nicht.
    In den Ecken der Höhle stehen Wächter hinter den Bankreihen. Wahrscheinlich sind es dieselben, die von Zeit zu Zeit an den Bänken entlanggehen. Auch direkt vor dem Ausgang steht ein Wächter, bewegungslos. Sokrates greift nach einem der Stöcke, mit dem er zuvor gefesselt war. Dann atmet er ein paar Mal tief ein und aus. Sein Entschluss ist gefasst. Fest stemmt er die Füße auf den Boden, als könne ihm die Erde Kraft für seinen Sprint zum Ausgang geben. Dann spannt er die Muskeln an, springt auf, läuft durch die zuvor ausgemachten Lücken zwischen den Vorderleuten hindurch, stößt sie dabei zur Seite. Ein paar Meter noch.
    Sokrates kann nicht sehen oder hören, ob sich die Wächter aus den Ecken der Höhle bewegen, doch er sieht den Wächter am Höhlenausgang. Dieser umfasst seine Waffe mit beiden Händen, macht sich kampfbereit. Der Philosoph will nicht kämpfen, er will nur an der Wache vorbeilaufen. Er umklammert das Stückchen Holz, das Einzige, was ihm als Waffe zur Verfügung steht. Im Laufen fixiert er den Wächter am Ausgang. Dieser steht breitbeinig da und starrt ihn an. Da hat Sokrates eine Idee: Er täuscht einen Schlag gegen die Waffe des Wächters vor, haut ihm dann aber mit dem Stock auf den rechten Fuß. Der steckt in einer Sandale und ist nur wenig geschützt. Der Wächter schreit vor Schmerz auf, lässt sein Schwert fallen, beugt sich nieder. Schon ist Sokrates vorbei. Er läuft weiter, eine ansteigende Rampe hinauf, um eine Kurve – und dann ist er draußen. Alles ist hell; er ist geblendet, kann nichts mehr erkennen. Voller Furcht dreht er sich um, noch immer das Stückchen Holz umklammernd. Doch niemand ist ihm gefolgt.
    Langsam gewöhnen sich seine Augen an das Licht. Er erkennt die Pflanzen und Tiere auf der Lichtung, die Bäume am Waldesrand in etwa hundert Meter Entfernung. Die Dinge, die zuvor nur in schattenhaften Umrissen in dunkles Grau getaucht an den Wänden der Höhle erschienen, tragen hier ihre natürlichen Farben und wiegen sich im Wind. Die Luft, die er in seine Lungen saugt, ist frisch und klar. Sokrates hat den Eindruck, dass er zum ersten Mal in seinem Leben die Dinge so sieht, wie sie wirklich sind. Dann hebt er den Kopf, hin zu der Lichtquelle, welche die Dinge erst erscheinen lässt. Er schaut direkt in die Sonne und blinzelt.
    Diese Begebenheit beschreibt Platon – etwas weniger ausgeschmückt – im siebten Buch der „Politeia“, seines Buches über den Staat. Es ist das berühmte Höhlengleichnis, das schildert, wie die geeigneten Menschen zur Erkenntnis der Idee des Guten gelangen. In der Höhle sehen sie – wie alle anderen auch – nur die Abbilder der Gegenstände, an der frischen Luft dagegen erblicken sie die eigentlichen Dinge und Gegebenheiten. War für die Maler in der Grotte von Chauvet die Höhle ein Ort der Erkenntnis, so sind Platons Höhlenmenschen einfältige Zeitgenossen, die Schatten und Abbilder der Dinge höher schätzen als die Wahrheit.
    Die Geschichte ist ein Gleichnis, das Platons Grundüberzeugung beschreibt: Die sichtbaren Dinge sind für ihn nur Abbilder der Idee, der eigentlichen Form des jeweiligen Gegenstandes oder Sachverhalts. So ist für ihn der Tisch bestimmt durch die Idee des Tisches. Der sichtbare Tisch wäre ein Abbild in der Höhle, die Idee des Tisches erst außerhalb der Höhle erkennbar. Die jeweilige Idee der Dinge können Menschen nach

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