Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
E-Book statt Papierkonserve

E-Book statt Papierkonserve

Titel: E-Book statt Papierkonserve Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marlies Michaelis
Vom Netzwerk:
Prozess des Lesens.
    Linearität, aktive Aneignung und freie Zeiteinteilung bei der Lektüre sind also drei maßgebliche Kennzeichen des geschriebenen Textes. Ein viertes Kennzeichen kommt auf jeden Fall hinzu. Denken Sie noch einmal an Gilgamesch. Wie sieht er in Ihrer Vorstellung aus? Ist er groß oder klein, muskulös oder drahtig – und hat er einen Bart? Wenn wir Geschichten lesen, dann malen wir uns in der Phantasie die beschriebenen Szenen aus. Wir fügen Teile hinzu, lassen anderes weg, was wir vielleicht überlesen haben. Ohne unsere Phantasie würde es gar keinen Spaß machen, Geschichten über andere Menschen und fremde Orte zu lesen. Diese vier – linearer Ablauf, die Zeithoheit des Lesers, die aktive Aneignung und die phantasievolle Ausgestaltung – sind also zentrale Elemente längerer Texte. Sie sind schon für frühe Texte wie das Gilgamesch-Epos gültig. Sie bestimmen das Verhalten des Lesers zum Text. Für diese Elemente ist die materielle Gestalt, in welcher der Text vorliegt, einerlei. Tontafeln ermöglichen die Lektüre ebenso wie das gedruckte Buch oder das E-Book.
    Das Gilgamesch-Epos war eine der ersten Geschichten, die nachfolgende Generationen lesen durften. Wobei die Sumerer und Babylonier das Epos nicht nur lasen – es gehörte zu den Standardtexten, die an den frühen Schreibschulen kopiert wurden. Schüler in Mesopotamien lasen das Epos also nicht nur, sondern eigneten es sich über das wiederholte Abschreiben an. Dies ist auch der Grund, warum es bis heute überliefert ist. Stücke aus dem Epos wurden an vielen Orten gefunden; die Forscher konnten die einzelnen Abschnitte zusammenfügen und den Text rekonstruieren. Bis zum heutigen Tage fehlen noch Passagen. Doch dank des Kopier-Verfahrens in Keilschrift kennen wir den größten Teil des Textes.
    Mit dem Gilgamesch-Epos brach die Zeit der großen Geschichten an, welche die Menschen nicht mehr losließen. Sie lesen sie oder lauschen ihnen am Herdfeuer, am Kamin und auch noch bei Fußbodenheizung und heißem Tee. Nur heißen die Helden der modernen Zeiten nicht mehr Gilgamesch oder Odysseus, sondern Frodo Beutlin und Harry Potter.
    Im 4. und 3. Jahrtausend v. Chr. entstand also das Symbolsystem der Schriftsprache, zunächst noch als Ansammlung von Piktogrammen und abstrakten Zeichen, dann in Form einer Silbenschrift. Der letzte Schritt hin zum Alphabet stand noch aus. Es war das Verdienst der Phönizier, den großen und bedeutenden Übergang von der Silbenschrift zu einem ersten Alphabet aus Konsonanten zu vollziehen. Das erste Alphabet aus Konsonanten und Vokalen führten dann die Griechen ein. Das antike Griechenland hat der Schrift aber nicht nur das erste vollständige Alphabet beschert, sondern auch ein paar andere Neuerungen.

7  Worte in der Höhle
    Sokrates starrt geradeaus. Er befindet sich in einer Höhle. Felsgestein umgibt ihn. Ein rötlich-gelber Feuerschein erleuchtet flackernd das steinerne Gewölbe. Er sitzt auf einer Bank. Rechts und links von ihm sowie auf den Bänken vor und hinter ihm sitzen gleichfalls Leute. Alle haben ihren Blick starr auf die Wand vor ihnen gerichtet. Im flackernden Schein des Feuers zeichnen sich dort Figuren an der Wand ab. Sokrates runzelt die Stirn. Er kann sich nicht daran erinnern, wie er in diese Höhle hineingekommen ist. Vielleicht, denkt er, war ich schon immer an diesem Ort. Er versucht, seinen Kopf zur Seite zu wenden. Doch das geht nicht. Eine Konstruktion aus Holzstäben und Seilen fixiert seinen Kopf. Sein Blick ist unabwendbar geradeaus gerichtet. Die Figuren tanzen an der Wand.
    „Hey“, sagt er leise und hofft, dass eine der Personen neben ihm antwortet. Doch stattdessen rufen sie Worte in den Raum – als ob es sich um einen Wettbewerb handelt. Er konzentriert sich auf das, was sie rufen. „Tisch“, hört er und: „Stuhl“. Nach einer langen Pause dann auch: „Schiff“. Schneller dann: „Hammer“, wieder nach einer kleinen Pause: „Baum“. Einer ruft: „Stier“, eine andere: „Puppe“. Die Bilder an der Höhlenwand wechseln. Sokrates begreift: Wenn einer der Sitzenden das richtige Wort nennt, kommt ein neues Bild.
    In der Höhle ist es warm, aber etwas muffig. Woher weiß ich, dass die Luft frischer sein könnte, wenn ich doch schon immer in der Höhle war, fragt sich Sokrates. Vielleicht gibt es ja noch mehr Räume in der Höhle. Doch zunächst bleibt er sitzen, stimmt in den Chor der Rufenden mit ein. Die meisten Bilder kann er richtig benennen. Nach

Weitere Kostenlose Bücher