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E-Book statt Papierkonserve

E-Book statt Papierkonserve

Titel: E-Book statt Papierkonserve Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marlies Michaelis
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einigen Stunden in dem flackernden Feuerschein beginnt er, sich zu langweilen. Er ruft nicht mehr, beobachtet stumm die schon seit Stunden vertraute Szene. Die anderen rufen weiter, routiniert, ohne Abscheu, ohne Begeisterung.
    Dann sieht er für einen kurzen Augenblick, dass an einem Ende des Raumes eine Person eintritt. Sofort nähern sich von rechts und links zwei Wächter mit Helm und Speer. Sie ergreifen die Frau, die unbewaffnet ist, und verschwinden aus seinem Blickfeld. Sokrates starrt noch einen Moment lang auf den kleinen Absatz, an dem die Frau abgeführt wurde. Er hätte gerne gewusst, was mit ihr passiert ist. Die Fesseln stören ihn, sie stören ihn ungemein. Sokrates bewegt seine Schultern, seinen Rücken. Er versucht, die Fesseln zu lockern. Wie viel Spielraum lässt ihm die Konstruktion auf seinem Rücken? Fast gar keinen, stellt er fest. „Die Fesseln tragen wir zu unserem Schutz“, raunt eine Stimme neben ihm. Aus den Augenwinkeln schaut er nach links, doch der Mann an seiner Seite macht eine unbeteiligte Mine. Er benennt, wie alle anderen auch, die Schattenbilder an der Wand. Hat er ihm die Worte zugeraunt? „Wieso dienen die Fesseln unserem Schutz – das verstehe ich nicht“, spricht Sokrates seinen Banknachbarn leise an. Doch der reagiert nicht.
    Es gibt keine Belohnung für richtige Bezeichnungen und keine Strafe für falsche Äußerungen. Der Chor bewirkt, dass alle sich bemühen, den richtigen Ausdruck zu finden. Während Sokrates so dasitzt, einigermaßen unzufrieden, aber doch eingelullt von dem Chor, wird er ein wenig müde. Für einen Moment stimmt er wieder mit ein. Die monotone Abfolge von Worten, im Chor gesprochen, beruhigt ihn. Doch die Frage, woher die Frau kam, die den Raum seitlich betrat, lässt ihm keine Ruhe. Er schaut mehrmals zu dem Absatz, auf dem sie ergriffen wurde. Doch er sieht keine weitere Person – weder Mann noch Frau –, die von einem anderen Ort aus die Höhle betritt.
    Sokrates zwingt sich, sich zu konzentrieren. Systematisch bewegt er Holzgestänge und Seile an seinem Rücken hin und her. Nach Stunden bewegt er Schultern und Rücken immer noch leicht. Er hat sich einen Rhythmus angewöhnt: Zuerst schiebt er Schultern und Rücken nach links, dann nach rechts, dann nach vorn und schließlich nach hinten. Nach jeder Runde legt er vier Takte lang eine Pause ein und beginnt wieder von Neuem. So verläuft die Bewegung fast automatisch und geht auch weiter, wenn er ein wenig wegdämmert. In längeren Abständen klopft an der rechten oder linken Seite der Reihe das stumpfe Ende eines Speeres auf den Boden. Aus dem Augenwinkel erkennt Sokrates die Umrisse eines Wächters, dann schreckt er auf und verharrt regungslos. Haben sie seine Bewegungen bemerkt? Wie sichtbar sind die Reihen der Gefangenen im flackernden Licht des Lagerfeuers? Doch alles geht gut; sie kommen nicht näher heran, kontrollieren seine Fesseln nicht. Diese haben sich nach einigen Stunden des stummen Hin- und Herwiegens zumindest etwas gelockert.
    Der Chor benennt weiter die Schattengebilde an der Wand und Sokrates stimmt die meiste Zeit mit ein, um nicht aufzufallen. Mit zusammengekniffenen Augen bestimmt er die Entfernung zwischen seinem Platz auf der Bank und dem Punkt, an dem er die Frau sah, als sie die Höhle betrat. Es sind zehn, vielleicht auch fünfzehn Meter. Wenn er nicht auf einer mittleren Bank, sondern auf der ersten oder der letzten säße, wäre der Weg leichter zurückzulegen. So muss er erst die beiden Bänke vor sich überwinden, bevor er in Richtung des Höhlenausgangs rennen kann. Er betrachtet die beiden Reihen vor sich lange und gründlich. Dann entdeckt er eine Lücke: Zwischen zwei Personen leicht links von ihm in der Reihe vor ihm und zwischen zwei weiteren Personen in der ersten Reihe sind die Abstände ein wenig größer als bei den anderen. Das wird er ausnutzen, um durch die Bänke zu gelangen. Dann bleiben noch einige Schritte bis zum seitlichen Ausgang, der ebenfalls links liegt.
    Wo die Wächter stehen, vermag er nicht zu entdecken. Vielleicht direkt am Ausgang, denkt er. Vielleicht ist jeder Fluchtversuch von vornherein zum Scheitern verurteilt. Aber nun hat Sokrates seine Fesseln schon so weit gelockert, dass er es versuchen will. Was hat er schon zu verlieren? Einen Platz im Chor der monotonen Brabbler. Ob die Wächter alle Abweichler umbringen? Der Gedanke erschreckt ihn und er zweifelt einen Moment lang an seinem Vorhaben. Vielleicht haben sie die Frau vom

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