Ebbe und Glut
Unterwegs sahen sie Feuerwehrleute, die umgestürzte Bäume von den Straßen räumten. Das kurze, aber heftige Unwetter hatte erheblichen Schaden angerichtet. Sie sprachen den ganzen Weg lang kein Wort, und als Arthur vor ihrem Haus parkte, saßen sie noch einen Moment in verlegenem Schweigen nebeneinander.
»Danke für den schönen Abend«, sagte Mia schließlich.
»Gleichfalls. Tut mir leid, dass ich wohl die falschen Fragen gestellt habe. Ich hätte mich an unsere Spielregeln halten sollen.«
»Ach, diese blöden Regeln.« Mia berührte ihn leicht am Arm. Er wandte ihr sein Gesicht zu, aber sie sah im Dämmerlicht den Ausdruck seiner Augen nicht. Sie öffnete die Autotür.
»Gute Nacht«, sagte sie leise.
»Gute Nacht.« Seine Stimme klang warm und dunkel.
Mia eilte zum Haus hinüber und sah dem Wagen hinterher, der die enge Straße hinab fuhr und um die nächste Ecke verschwand.
In ihrem Wohnzimmer entdeckte Mia auf dem Fensterbrett eine kleine Wasserlache. Der Sturm hatte den Regen durch das undichte Fenster gedrückt. Seufzend wischte sie das Wasser fort. Im Fernsehen erfuhr sie von schweren Verwüstungen, die das Unwetter angerichtet hatte. Niemand hatte den Orkan vorhergesehen, daher waren auch keine Warnungen ausgesprochen worden. Er fegte urplötzlich über die Stadt und zog genauso schnell weiter.
Mia fühlte sich unendlich müde und hatte trotzdem kein Bedürfnis, ins Bett zu gehen. Die Traurigkeit hing noch an ihr wie Arthurs Geruch, verwirrend und lästig. In letzter Zeit war doch alles ganz gut gelaufen. Sie verstand nicht, warum sie gerade an diesem stürmischen Tag im Mai, unter dem durchdringenden Blick von Arthurs blauen Augen, erneut allen Kampfgeist verloren hatte.
Auf einmal musste sie an Frank denken, der mit seiner Fröhlichkeit und seiner Gier nach Leben ganz anders als dieser steife, kalte Arthur war. Als sie heirateten, hatte sie geglaubt, nun sei alles gut, nun könne sie sich für die nächsten vierzig Jahre entspannen. Sie hatte in ihrem wunderschönen cremefarbenen Kleid vor dem Pfarrer gestanden und gedacht, er werde sie und Frank bis in alle Ewigkeit verbinden. Stattdessen hatte diese seltsame Ehe gerade mal vier Jahre gehalten.
5
Mit Frank an der Seite war das Leben ein einziger Spaß. Sie gingen auf Konzerte, ins Kino, in Ausstellungen. An den Wochenenden tanzten sie bis in den frühen Morgen hinein in Clubs und auf Partys von Freunden. Oft war Mia montags noch völlig verkatert, aber das Gefühl von Lebendigkeit war so überwältigend, dass sie trotzdem gut arbeiten konnte. Frank lebte viel unkonventioneller als Mia ursprünglich erwartet hatte. Sie genoss es, gemeinsam mit ihm in ein intensives, übersprudelndes Großstadtleben einzutauchen.
Frank kannte die halbe Stadt, viele seiner Freunde und Bekannten waren Künstler. Sie machten bei Poetry Slams mit, spielten Musik in winzigen Kneipen oder stellten ihre Bilder in alten Fabrikhallen aus. Die wenigsten von ihnen konnten von ihrer Kunst leben.
Frank arbeitete als Grafiker und Webdesigner und wurde privat immer wieder für Projekte eingespannt, die einen Haufen Zeit kosteten, aber kein Geld einbrachten. Wenn Mia deswegen eine Bemerkung machte, sagte Frank nur leichthin:
»Ach, komm, wir haben doch genug. Und der Boogie braucht unbedingt eine professionelle Internetseite, damit er seine Bilder endlich mal richtig präsentieren kann.«
Seine Freunde hatten sich so schräge Namen wie Boogie, Rocco, Schmiddel oder Frodo zugelegt, und sie waren alle sehr gesellig. Man traf selten einen von ihnen allein an, in der Regel traten sie im Rudel auf und balgten sich ständig darum, wer ihr Anführer sein durfte. Die Rollenverteilung schien jede Woche zu wechseln, aber Rocco Paletti, der als Drehbuchautor arbeitete und tatsächlich davon leben konnte, erkämpfte sich den Rang des Leithundes besonders oft. Er hatte eine schlaksige Figur, bunte Tätowierungen auf den Armen und braune Haare, die er mit viel Gel straff nach hinten kämmte. Mia mochte Rocco nicht sonderlich. Sie fand, dass er es mit seinem coolen Auftreten deutlich übertrieb. Für ihren Geschmack wirkte er eine Spur zu herablassend und gleichgültig, und er bedachte Mia ein bisschen zu oft mit einem anzüglichen, süffisanten Grinsen. Eigentlich stand er auf Männer - aber seine sexuelle Orientierung schien nicht ganz eindeutig zu sein.
»Ist er etwa doch nicht schwul?«, fragte Mia, als sie einmal beobachtete, wie Rocco auf einer Party mit
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