Ebbe und Glut
klang so, als sei es Jahrzehnte her. Mit dreiundvierzig Jahren hatte Arthur bereits alles geschafft und sich mehr oder weniger zur Ruhe gesetzt. Die Scham über ihr eigenes Scheitern überwältigte Mia. Wie aus weiter Ferne hörte sie Arthurs Stimme:
»... kommt mir nicht so hoffnungslos vor.«
Mühsam brachte sie hervor: »Es ist aber so. Man hat nur Erfolg, wenn man ununterbrochen am Ball bleibt. Sobald man einmal hinfällt, kommt man nicht mehr auf die Beine.«
Diesmal behauptete Arthur nicht, dass es doch ganz leicht sei, wieder aufzustehen. Stattdessen sagte er leise, wie zu sich selbst: »Ist das so?«
Mia presste die Lippen aufeinander, und zu ihrem eigenen Entsetzen schossen ihr plötzlich Tränen in die Augen. Sie schlug erschrocken die Hände vors Gesicht und versuchte verzweifelt, ihre Fassung wiederzugewinnen. Wieso heulte sie ausgerechnet hier vor diesem blöden Arthur, der vermutlich nicht mal wusste, was Tränen waren? Ihr war das schrecklich peinlich.
Arthur stand auf, holte aus einer Schublade eine Packung Kleenex und reichte sie ihr wortlos. Dankbar griff sie danach. Sie wagte nicht, ihn anzusehen, aus Furcht, in seinem Blick nur Verachtung zu lesen. Sein Schweigen war deutlich genug. Sie putzte sich die Nase, schloss die Augen und holte ein paar Mal tief Luft, bemüht, das Beben in ihrer Brust wieder unter Kontrolle zu bekommen. Dann stand sie auf und warf die nassen, zerknüllten Papiertücher in den Müll. Sie fühlte sich erbärmlich.
»Geht's wieder?«, hörte sie Arthurs Stimme in ihrem Rücken, leise und überraschend warm. Sie nickte, ohne sich umzudrehen.
»Das Leben beutelt einen manchmal ganz schön, was?«, fuhr Arthur fort.
Wieder nickte Mia stumm, hilflos und zutiefst beschämt. Sie suchte Halt am Spülbecken, stützte sich mit den Händen ab und wusste nicht, was sie jetzt tun sollte. Vielleicht wenigstens ein paar erklärende Sätze zu ihren Tränen hinzufügen?
»Es ist so ...«, hob sie an und brach wieder ab, als sie merkte, dass sie ihre Ängste, ihre Verzweiflung nicht in Worte zu fassen vermochte.
»Du bist mir keine Erklärung schuldig«, warf Arthur ein. Er stand dicht hinter ihr, so dicht, dass sie einander fast berührten. Es nahm ihr die Luft.
»Ach«, fuhr sie mit einer wegwerfenden Handbewegung fort, »du kannst das sowieso nicht verstehen.«
»Kann ich nicht? Oh, natürlich, schon klar. Wer in so einer Wohnung lebt und so ein dickes Bankkonto hat wie ich, für den muss das Leben ja ein ununterbrochener Sonntagsspaziergang sein.«
Wie feine Nadelspitzen streifte sein Atem ihr Ohr. Da war er wieder, der vertraute Zorn, die kalte Verachtung.
»Das ist es doch, was du ständig denkst, richtig? So ist das aber nicht.« Er trat noch dichter an sie heran. »Nur weil ich etwas mehr Geld habe als du und gerne mal den arroganten Sack raushängen lasse, heißt das noch lange nicht, dass ich nicht weiß, wie es sich anfühlt, am Boden zu liegen.«
Über den arroganten Sack musste sie schmunzeln. Mit einem schiefen Grinsen und verheulten Augen drehte sie sich zu Arthur um. Er stand so dicht vor ihr, dass sie mit ihrer Nase seine Brust berührte.
»Tut mir leid.« Ihre Stimme zitterte immer noch gefährlich. »Ich … ich bin wohl grade ziemlich hinüber.«
»Das sehe ich.«
Ihre Nase stieß in sein frisch gebügeltes Hemd und ein betörender Duft nach Arthurs Parfüm, das ihr mittlerweile sehr vertraut war, umhüllte sie. Mia wagte nicht, ihr verheultes Gesicht zu bewegen, aus Furcht, sie könne das teure Hemd schmutzig machen, und Arthur rührte sich auch nicht vom Fleck. Es schien Ewigkeiten zu dauern, bis er endlich zur Seite trat, und Mia wieder frei atmen konnte.
Arthur wies zur Terrassentür hinaus. »Mir scheint, das Unwetter ist vorbei. Ich glaube, ich fahre dich mal nach Hause, okay?«
Mia nickte, dankbar und verwirrt zugleich, dass Arthur keine weiteren Fragen stellte und sich sogar noch anbot, sie heimzubringen.
Schweigend verließen sie die Wohnung und fuhren mit dem Fahrstuhl in die Tiefgarage. Arthur fuhr einen silbernen Mercedes, eine große, schwere Limousine, die breit wie ein Schiff war. Mia hatte ihm eher etwas Sportlicheres zugetraut, so eine kleine Flunder, schick anzusehen, aber total unpraktisch, ein typisches Männerspielzeug eben. In der Limousine fühlte Mia sich wie ein kleines Mädchen, das mit Papi auf große Fahrt gehen darf, während Arthur seine Angeberkarre konzentriert und souverän durch den dichten Wochenendverkehr steuerte.
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