Ebbe und Glut
Mia Tränen in die Augen, sie war wie berauscht von der Geschwindigkeit und hätte schreien mögen vor Glück. Carol trieb ihr Pferd an, damit es noch schneller lief. Wie bei einem Turnier riss sie einen Arm nach oben und reckte eine Faust in der Siegerpose zum Himmel. Mia traute ihren Augen kaum. Bei diesem Tempo einhändig zu reiten, noch dazu auf einem fremden Pferd, war mehr als leichtsinnig. Aber Carol schien überhaupt keine Angst zu haben. Sie drehte sich sogar noch im Sattel um, lachte Mia zu – und riss auch den zweiten Arm nach oben. War sie völlig verrückt geworden? Keineswegs. Sie hatte die Situation genau im Blick. Der Sand wurde ohnehin weicher, die Pferde waren erschöpft und beendeten den wilden Galopp von selbst.
An langen Zügeln stapften die Ponys durch den tiefen Sand. Ein Mann stand am Rand der Dünen und filmte die Gruppe mit einer Digitalkamera. Carol lenkte ihr Pferd zu ihm. Lachend winkte sie in die Kamera.
Später, nachdem sie die Pferde in aller Ruhe versorgt und zum Weiden auf die Salzwiesen entlassen hatten, gingen sie alle zusammen Pizza essen. Sie waren eine ausgelassene Runde. Mia mochte Carols offene, herzliche Art; oberflächlich, hätten andere gesagt, aber Mia war bereit, sich für die Zeit dieser einen Urlaubswoche darauf einzulassen. Der Mann mit der Kamera war auch dabei. Er gehörte zu Carol und hatte auch auf dem Hof noch weiter gefilmt und Fotos gemacht.
»Kannst du uns eine Kopie von dem Film schicken?«, wandte Henny sich an ihn. »Das wäre total klasse.«
»Ja, klar«, sagte er bereitwillig. Er war groß und hatte dieselbe energiegeladene Ausstrahlung wie seine Frau.
Er war Mia bereits am Tag zuvor beim Joggen am Strand aufgefallen. Sie hatte ihm heimlich hinterher geschaut und seine kräftigen Bewegungen und das markante Gesicht bewundert. Ob er sie auch wiedererkannte, ließ er sich nicht anmerken. Am Strand hatte er sich allerdings ebenfalls nach ihr umgedreht.
Henny schrieb ihm auf einen Bierdeckel ihre Mailadresse. Carols Mann schenkte ihr ein umwerfendes Lächeln.
»Sternchen?«, fragte er amüsiert, als er die Adresse las.
»Äh … ja …« Henny wurde tatsächlich rot. »Von Stern. Das ist mein Nachname.«
»Verstehe.« Wieder folgte dieses umwerfende Lächeln.
Mia warf Carol einen flüchtigen Blick zu, aber die war gerade in ein Gespräch mit Heike, der Reitlehrerin vertieft. Offenbar war es ihr egal, dass ihr Mann mit Henny flirtete.
Es war spät geworden.
»Also dann«, Mia erhob sich schwerfällig. Nach einer Woche Reiterurlaub tat ihr jeder Knochen weh.
Gemeinsam brachen sie auf und gingen zu Fuß durchs Dorf. An jeder Kreuzung bog jemand zu seinem Ferienhaus ab. Carol umarmte Mia und Henny zum Abschied, und sie versprachen einander, sich im nächsten Jahr wieder auf Spiekeroog zu treffen.
Eine Woche später erhielt Henny eine Mail von Carol mit dem versprochenen Film und einigen Fotos, auf denen auch Mia und Henny zu sehen waren. Sie leitete die Mail an Mia weiter. Mia bedankte sich bei Carol, aber die reagierte nicht. Mia schickte ihr trotzdem im Winter einen Weihnachtsgruß und fragte im darauf folgenden Frühling an, ob Carol und ihr Mann wieder nach Spiekeroog reisen würden.
Aber sie erhielt nie eine Antwort.
Für Carol war ihre Begegnung wohl doch nur eine oberflächliche, unverbindliche Urlaubsbekanntschaft gewesen.
Auf einmal verstand Mia auch, warum sie bei ihrer ersten Verabredung mit Arthur das unbestimmte Gefühl gehabt hatte, ihn zu kennen. Ihre Begegnung damals war jedoch zu flüchtig gewesen, um sich genauer in ihrem Gedächtnis festzusetzen. Und es war so viel seitdem geschehen, dass der Urlaub längst in weite Ferne gerückt war. Mia hatte nur unklare und bruchstückhafte Erinnerungen an Carols Mann, aber er war sehr charmant und unkompliziert gewesen, das wusste sie noch. Sie lachten viel zusammen bei jenem gemeinsamen Pizzaessen.
Was war passiert, dass Arthur seit damals sein Lachen so verlernt hatte? Und vor allem: Was zum Teufel machte er hier die ganze Zeit mit Mia, während seine Frau zuhause auf ihn wartete?
Mia wurde übel vor Angst.
Die Woche verging, ohne dass Arthur sich meldete. Das war kein gutes Zeichen. Aus Mias Übelkeit wurde Zorn. Sie war sich sicher, dass Arthur verschreckt zu seiner Frau zurückgekehrt war. Als er das Foto gesehen hatte, war ihm vermutlich klar geworden, dass es einen, wenn auch lange zurückliegenden, Kontakt zwischen seiner Frau und Mia gab. Da war ihm seine Affäre zu
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