Ebbe und Glut
Bild.« Mia verdrehte ungeduldig die Augen.
Auch Frank musterte Arthur verwundert. Eben noch war dieser Mann sehr überlegen und gelassen aufgetreten, aber nun verstörte ihn der Anblick eines harmlosen Urlaubsfotos so sehr, als hätte er einen Geist gesehen.
»Wer ist denn diese Carol?«, fragte er neugierig.
Arthur richtete seinen Blick fest auf Mia, aber er schien durch sie hindurchzusehen. Seine Stimme klang fremd und hohl.
»Meine Frau«, sagte er.
18
»Was war denn das?«
Frank starrte verblüfft auf die Tür, durch die Arthur soeben fluchtartig Mias Wohnung verlassen hatte. Mia schüttelte verstört den Kopf. Das hätte sie auch gern gewusst.
»Wer war dieser Typ überhaupt?«, fragte Frank.
»Ein Bekannter.«
Frank musterte sie eindringlich. »Scheint ja ein ziemlich guter Bekannter zu sein«, bemerkte er und konnte seine Eifersucht nicht verbergen.
»Und wenn schon – was geht’s dich an?« Mia vergrub sich in hilfloser Verwirrung unter ihrer Wolldecke.
Sie verstand das nicht. Was hatte Arthur so erschreckt? Und wieso um Himmels Willen hatte er plötzlich eine Frau? Noch dazu diese Carol, die Mia – wenn auch nur sehr flüchtig – sogar kannte. Ihr wurde abwechselnd heiß und kalt, und sie konnte es kaum abwarten, nach den Fotos ihrer Spiekeroogreise zu suchen. Frank hatte es jedoch überhaupt nicht eilig, zu gehen. Er quetschte Mia so lange aus, bis er halbwegs die Zusammenhänge begriff, soweit Mia sie überhaupt selbst verstand.
»Zufälle gibt's«, sagte Frank vielsagend. »Ein Zufall ist zum Beispiel, dass ich nur zwei Straßen von dir entfernt wohne. Hast du das gewusst?«
»Ich hab's geahnt.« Unwillig dachte Mia an ihre Begegnung mit Rocco im vergangenen Sommer.
»Falls du also mal was brauchst – ich bin ganz in der Nähe.« Frank bewegte sich unsicher in Richtung Tür.
Mia schluckte. Sie wollte sich jetzt nicht auch noch mit Frank beschäftigen, die Baustelle mit Arthur reichte ihr fürs Erste.
»Danke«, sagte sie und brachte ein schiefes Grinsen zustande.
Das genügte Frank, um wieder Hoffnung zu schöpfen. »Dann bis bald mal.« Er verabschiedete sich mit einem liebevollen Lächeln.
Die Wohnungstür war kaum hinter Frank zugefallen, als Mia sich bereits den Laptop auf den Schoß zog und anfing, ihre Festplatte zu durchwühlen. Mit fliegenden Fingern klickte sie sich durch die Bilder ihres Spiekeroogurlaubs, ständig auf der Suche nach Arthur und Carol. Arthur war nirgendwo zu sehen. Aber Carol lachte ein paar Mal direkt in die Kamera. Ja, genau, erinnerte Mia sich wieder, sie war eine sehr fröhliche Frau in Mias Alter.
Mia dachte an die Panik, mit der Arthur aus ihrer Wohnung geflohen war. Frank hatte recht, es gab im Leben die seltsamsten Zufälle. Da begegnete man sich flüchtig auf einer Urlaubsreise, und dann traf man sich Jahre später unter ganz anderen Umständen wieder, und was so harmlos und unschuldig begann, endete plötzlich im totalen Chaos.
Mia erinnerte sich haargenau an jeden einzelnen Tag dieses Urlaubs auf Spiekeroog. Sie und Henny ritten seit vielen Jahren gemeinsam auf einem Hof in der Nähe von Hamburg. Weil sie auch in diesem Urlaub hauptsächlich reiten wollten, beschlossen sie, alleine zu reisen. »Das wird ein männerfreier Urlaub«, erklärte Mia und schlug Frank vor, doch zur selben Zeit auch mit ein paar Freunden wegzufahren. Vermutlich war das der Anfang vom Ende, dachte sie später. Aber damals hatten sich alle einfach nur gefreut – Mia und Henny auf die Pferde, Frank, Rocco, Boogie und Bonzo auf eine wilde Zeit ohne Frauen in Dänemark. Sie hatten großes Glück mit dem Wetter, es war für Anfang Mai sehr warm und sonnig. Die Männer genossen die Nordsee in Dänemark zum Surfen, die Frauen die endlosen Strände der kleinen, ostfriesischen Insel zum Reiten und Sonnenbaden.
Mia und Henny machten fast täglich geführte Ausritte auf kleinen, robusten Islandpferden in die Dünen und zum Strand mit, und dabei lernten sie Carol kennen, eine fröhliche, lebenslustige Amerikanerin. Sie war eine verwegene Reiterin und lieferte sich zum Ärger der Reitlehrerin mit einigen anderen Reitern ein kühnes Wettrennen am Strand. Im fliegenden Galopp jagten sie über den menschenleeren Strand und rissen die ganze Gruppe mit. Mia stellte sich in die Steigbügel und beugte den Oberkörper weit nach vorne. Noch nie in ihrem Leben war sie so schnell galoppiert. Und es ging ewig so weiter, der Strand schien überhaupt nie zu enden. Der Wind trieb
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