Ebbe und Glut
Jahr lang. Sie zitterte vor Wut. »Du bist ja wohl das mieseste Arschloch, das mir jemals untergekommen ist«, schrie sie. »Arthur Kessler, du kannst echt froh sein, dass ich nicht vor dir stehe. Ich würde dir glatt eine scheuern.«
Ein trauriges, dünnes Seufzen schob sich durchs Telefon.
Arthur sagte mit einer Stimme, die auch ihm fremd war: »Mia, es tut mir leid, dass du so über mich denkst. Ich kann dir das nicht verdenken. Es ist nur so … ich … Carol … also … ich bin Witwer.«
Er staunte selbst über dieses eigenartige Wort, das er noch nie so bewusst ausgesprochen hatte. Witwer – das waren doch gewöhnlich alte Männer, die mit gebeugtem Rücken über den Friedhof schlurften und Stiefmütterchen auf dem Grab ihrer verstorbenen Frau pflanzten, mit der sie fünfzig Jahre verheiratet gewesen waren. Witwer waren keine attraktiven Männer, die mitten im Leben standen.
Aber das Wort Witwer war so fremd und seltsam, dass Arthur es aussprechen konnte. Es war ein leichteres Wort als tot .
Carol ist tot. Carol ist gestorben. Carol lebt nicht mehr.
Er schaffte es nicht, das zu sagen. Es lag zu viel Vergangenheit darin. Zu viel Erinnerung.
Das Schweigen, das sich zwischen ihnen ausbreitete, wog tonnenschwer.
»Witwer?« Mia flüsterte das seltsame Wort fast, und sie klang dabei entsetzter als Arthur. Das Wort bekam in ihrem Mund Gestalt, es wurde konkreter, bedrohlicher. Es war ein dunkles Wort, unter dem sich ein riesiges, schwarzes Loch ausbreitete, das alles zu verschlingen drohte.
»Das heißt … ach, du meine Güte …«
Auf einen Schlag erfasste Mia alles, was in diesem einen Wort lag. Ihr Zimmer verschwand um sie herum, und vor ihr tat sich ein fremdes Universum auf, so groß, dass weder Arthur noch sie es in Worte zu fassen vermochte.
Zutiefst geschockt lauschte sie seiner Stimme, die aus einer anderen Welt in ihr Bewusstsein tröpfelte.
»Ich wollte dir das eigentlich nicht am Telefon sagen. Ich wollte es dir in Ruhe erklären. Ich wollte sogar … ach was, egal …«
Mia war so übel, dass sie glaubte, sich übergeben zu müssen. »Arthur, bitte …«
»Ist schon in Ordnung. Ich hab's ja selbst vermasselt.« Arthur klang verloren und mutlos. »Also dann …«
Er legte auf.
Mia blieb wie gelähmt sitzen und starrte ihr Telefon an. Jahre schienen vergangen zu sein, seit es geklingelt hatte und Arthur freundlich fragte, wie es ihrem Fuß ging. Jahre, in denen ein ganzes Leben aufgetaucht und wieder verschwunden war. Carols Leben.
19
Es war eine haltlose Zeit, in der erdrutschartig alles im Bodenlosen versunken war.
Später wurde Mia klar, dass die Anzeichen für die nahende Katastrophe direkt vor ihren Füßen lagen, aber sie hatte sie einfach ignoriert. Sie übersah die Warnungen in der Agentur ebenso wie die Vorboten zuhause. Die unzufriedene Stimmung ihrer Chefs ihr gegenüber schob sie auf den Stress, den ein großes Projekt erzeugte, bei dem ziemlich viel schief ging. Und dass Frank und sie kaum noch Zeit miteinander verbrachten, lag nur an seinen merkwürdigen, besitzergreifenden Freunden.
Es verging fast kein Abend, an dem Rocco Paletti nicht bei ihnen herumlungerte, wenn Mia müde und erschöpft nach Hause kam und sich nach ein paar stillen, gemütlichen Stunden mit ihrem Mann sehnte. Allmählich verspürte sie einen gewissen Groll gegen Rocco.
»Hast du kein eigenes Zuhause?«, fragte sie ärgerlich. Rocco saß auf ihrem Sofa, die Füße auf ihrem Couchtisch, neben sich eine Flasche Cola, die sie gekauft hatte, und guckte Grey's Anatomy. Frank hockte seit Stunden mit Schmiddel im Arbeitszimmer am Computer und bastelte für ihn ein Banner für sein neues Blog.
»Doch.« Rocco grinste breit. »Aber da ist es nicht so gemütlich wie hier.«
»Das liegt vermutlich daran, dass du keine so nette Putzfrau hast wie Frank, die deinen ganzen Müll wegräumt.« Ärgerlich leerte Mia den übervollen Aschenbecher und trug ein paar leere Flaschen in die Küche. Ordnung war ständig ein Diskussionspunkt zwischen ihr und Frank.
»Da irrst du dich, meine Liebe«, erklärte Rocco ernsthaft. »Ich bin ein sehr ordentlicher Mensch.«
Mia musste zugeben, dass seine Wohnung, in der er allein lebte, nicht nur sehr geschmackvoll eingerichtet war, sondern tatsächlich auch immer sauber und aufgeräumt aussah. Aber das lag vermutlich nur daran, dass Rocco Paletti, der in einem früheren Leben auf den Namen Ralf Becker getauft worden war, nie zuhause war, sondern seinen Müll lieber in den
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