_ebook - GER_ - Francesca Shaw - Allerliebste
ziemlich schmuddeligen Raum und fragte dabei: „Sie werden also in Rye End Hall wohnen? Das Haus hat im letzten halben Jahr leer gestanden, seit Sir Humphrey und Master Howard innerhalb von zwei Wochen gestorben sind.“ Er schüttelte den Kopf. „Manchmal frage ich mich, ob das nicht die gerechte Strafe für das schlechte Leben war, das beide geführt haben.“ Miss Donaldson räusperte sich missbilligend. Er warf einen Blick auf ihre frostige Miene und sagte rasch: „Ich bitte um Entschuldigung, meine Damen. Sie wussten, was passiert ist?“
„Sir Humphrey war mein Vater und Mr. Dane mein Bruder“, antwortete Antonia leise.
„Oh! Ah! Es tut mir Leid, Madam. Das wusste ich nicht. Die Postkutsche fährt jetzt ab. Ich werde gleich den jungen Jem holen.“ Der Wirt eilte davon. Ihm war offenbar klar geworden, dass er seine Grenzen überschritten hatte.
„Ich merke, dass die Einheimischen meinen Vater und meinen Bruder ebenso hoch geschätzt haben, wie wir das tun, Maria“, äußerte Antonia verbittert, während sie im Raum auf und ab ging. „Gott weiß, was uns erwartet, wenn wir endlich in Rye End Hall sind!“
Der junge Jem, der eine dünnere und knochigere Ausgabe des Wirtes, seines Vaters, war, erschien bald mit dem von einem kräftigen Pferd gezogenen Wagen und machte sich daran, das Gepäck aufzuladen.
Dann holte er seine Passagiere ab. Miss Donaldson betrachtete den schmalen Sitz und sagte, derweil sie hinten auf das Fahrzeug stieg: „Ich kann hier auf dem Gepäck sitzen, meine Liebe.“
„Das kommt nicht in Frage, Maria!“ entgegnete Antonia. „Du wirst vorn bei Jem sitzen. Ich kann durch den Wald gehen. Rye End Hall ist höchstens eine knappe Meile entfernt. Ich befürchte, ich bekomme Kopfschmerzen, und brauche etwas Bewegung“, fügte sie hinzu, weil Maria ein bedenkliches Gesicht machte.
Sie folgte dem Wagen über den Dorfanger, vorbei an den Cottages, und war froh, als sie nach einer Weile den Anfang des Pfades sah, an den sie sich erinnerte. Sie raffte die Röcke, sprang über die zahlreichen Pfützen und dachte daran, dass es volle zehn Jahre her war, seit sie diesen Weg zum letzten Mal genommen hatte.
Damals war ihre Mutter gestorben, und der Vater hatte sich dem Trunk, dem Spiel und den Weibern ergeben, diesem unsteten Lebenswandel, durch den er das Familienvermögen vergeudet und den Bruder negativ beeinflusst hatte. Sobald die Gerüchte über sein schlimmes Betragen London erreicht hatten, war Lady Honoria Granger aus der Stadt hergekommen und hatte Antonia zu sich genommen. Die Großtante hatte mit Widerstand seitens des Gatten ihrer Nichte gerechnet, doch Sir Humphrey war höchst erleichtert darüber gewesen, dass nun nicht mehr ihm die Pflicht oblag, seine Tochter erziehen zu müssen.
Glücklicherweise hatte Lady Honorias Gatte vor seinem Ableben gut für sie vorgesorgt. Dadurch war sie in der Lage gewesen, Antonia zu erziehen und in die Gesellschaft einzuführen. Sir Humphrey hatte nämlich, nachdem er Antonia losgeworden war, durch sein Benehmen erkennen lassen, dass ihm vollständig entfallen gewesen zu sein schien, je eine Tochter gehabt zu haben.
Hin und wieder blieb sie stehen, pflückte Primeln und fühlte sich, da sie nicht mehr in der unbequemen Postkutsche sitzen musste, sehr viel wohler. Als sie die lehmigen Spritzer auf dem Rocksaum sah, war sie froh, dass sie ein altes Kleid angezogen hatte.
Derweil sie bei der Großtante lebte, hatte es ihr an nichts gefehlt. Nachdem die alte Dame schließlich jedoch wegen Altersschwäche zu ihrem Enkel gezogen war, hatte Hewitt, der nur an sein Erbe dachte, keine Zeit verschwendet und Antonia zu verstehen gegeben, sie könne nicht mehr mit finanzieller Unterstützung rechnen.
Fälschlicherweise war sie der Annahme gewesen, ihr Lebensunterhalt werde aus den Zinsen des mütterlichen Erbes bestritten, doch Hewitt hatte sie schnell und sehr genüsslich eines anderen belehrt. Er hatte ihr unmissverständlich zu verstehen gegeben, dass sie nicht nur ohne die finanzielle Hilfe der Großtante auskommen, sondern sich mit ihrer Freundin und Gesellschafterin ein anderes Quartier suchen musste.
Sie wanderte den sich durch den Wald schlängelnden Weg entlang und gelangte auf eine im Sonnenlicht daliegende Lichtung. Dort nahm sie den Hut ab, zog den Mantel aus und setzte sich auf den Stamm eines umgestürzten Baums. Sie reckte das Gesicht in die Sonne und war froh, in der frischen Luft und nicht mehr in der Stadt zu sein.
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