Echo des Blutes: Thriller (German Edition)
irgendjemandem diese Fakten erfahren hat. Sie hat den Brief geschrieben, bevor die Morde verübt wurden.«
»Was wird Dana tun, wenn ich jetzt mit ihr darüber spreche? Zwei Detectives zu Christa-Marie schicken, um sie zu befragen? Ich kenne Christa-Marie. Mich würde Dana auf jeden Fall zu ihr schicken. Es besteht kein Grund, das Leben dieser Frau auf den Kopf zu stellen, bevor wir nicht wissen, was das alles zu bedeuten hat.«
»Du hast also vor, inoffiziell mit ihr zu sprechen?«
Byrne schwieg.
Jessica hätte ihren Partner gerne daran erinnert, dass Christa-Marie Schönburg sich eines Mordes schuldig bekannt und über fünfzehn Jahre im Gefängnis verbracht hatte. Byrne musste mit dieser Frau und dem Fall eine emotionale Verbundenheit spüren, auch wenn es ihm nicht klar war. Normalerweise würde er die ganze Kavallerie mobilisieren, wenn er hörte, dass jemand, der sich eines Mordes schuldig bekannt hatte, Informationen über neue Mordfälle besaß.
»Außerdem«, begann Byrne und zog nun seinen letzten Trumpf aus dem Ärmel. »Wer will behaupten, dass ich das nicht morgen gelesen habe? Alle wissen, dass ich nie meine Post aufmache.«
Kevin Byrnes Geheimnisse waren bei Jessica sicher aufgehoben, und das galt umgekehrt genauso. Sie vertraute seinem Urteil mehr als dem aller anderen, die sie kannte.
»Okay«, sagte Jessica. »Und was kann ich tun?«
»Ich fahre morgen früh als Erstes nach Chestnut Hill. Anschließend ruf ich dich an.«
Jessica nickte. Einen Augenblick lang herrschte Schweigen.
»Ist alles in Ordnung, Kevin?«, fragte Jessica schließlich.
Byrne öffnete die Tür des Pausenraums und sah hinaus. Es war niemand mehr da. »Ich weiß es wirklich nicht«, sagte er dann leise zu seiner Partnerin.
Zwanzig Minuten später beobachtete Jessica Byrne dabei, wie er seine Sachen zusammensuchte, die Aktentasche schloss, seine Waffe aus dem Aktenschrank nahm und nach seinem Mantel und den Schlüsseln griff. An der Tür blieb er stehen, drehte sich um, lächelte traurig und winkte ihr kurz zu. Als er um die Ecke verschwand, wusste Jessica, dass ihn noch etwas anderes beschäftigte, etwas anderes als der Job und etwas anderes als das Entsetzen über die vier Leichen, die an ganz bestimmten Stellen überall in der Stadt abgelegt worden waren.
Irgendetwas verschwieg er ihr.
40.
Er sitzt gegenüber von mir am Tisch, das zitternde Wrack eines Mannes. In der Hand hält er ein altes, zerknittertes Foto mit zerknickten Ecken, deren Farben längst verblasst sind.
Wir haben Kaffee getrunken und gescherzt. Mir ist Nostalgie fremd. Die Vergangenheit bedeutet mir nichts.
»Ich habe nicht damit gerechnet, dass du zurückkommst«, sagt er.
»Aber du weißt, warum ich hier bin, nicht wahr?«
Er nickt.
»Es hat sich alles geändert«, fahre ich fort. »Es gibt kein Zurück.«
Er nickt wieder. Jetzt hat er Tränen in den Augen.
Ich schaue auf die Uhr. Es ist Zeit, und die Zeit ist knapp. Ich stehe auf, bringe meine Kaffeetasse zum Spülbecken und spüle sie mit heißem Wasser aus. Ich trockne die Tasse ab und stelle sie in den Schrank. Ich trage Handschuhe, aber man kann nicht vorsichtig genug sein. Dann kehre ich an den Tisch zurück. Bevor die Wahrheit ans Licht kommt, herrscht stets Ruhe.
»Wird es wehtun?«, fragt er.
Ich lausche den Stimmen der Toten, die um mich herumwirbeln. Diese Frage würde ich ihnen gerne stellen. Leider kann ich es nicht. »Ich weiß es nicht.«
»Es ist alles so wie bei Cho-Cho-San, nicht wahr?«
»Ohne das Baby«, sage ich.
»Ohne das Baby.«
Ein paar Minuten vergehen. Sein Blick ist getrübt. »Erinnerst du dich, wie es war?«, fragt er.
»Ja, ich erinnere mich. Damals war alles möglich, nicht wahr? Jede Zukunft war denkbar.«
Wenn ich an diese Zeiten denke, werde ich traurig. Ich begreife, wie viel für immer vergangen ist, verloren im Labyrinth meiner Erinnerung. Ich stehe auf. »Möchtest du, dass ich noch warte?«
Er schaut kurz auf den Tisch und dann auf seine Hände. »Nein«, sagt er leise.
Ich nehme ihm das Foto aus der Hand und stecke es in meine Tasche. An der Tür bleibe ich stehen und drehe mich um. Ich sehe mich im Spiegel am Ende des Korridors. Er erinnert mich an die glänzende Blutlache auf dem Boden.
Ehe ich gehe, stelle ich die Musik lauter. Diesmal ist es nicht Chopin, sondern es sind Die Planeten von Holst, der Satz mit dem Titel »Venus, die Friedensbringerin«.
Frieden.
Manchmal, denke ich, als ich zum letzten Mal durch diese Tür schreite,
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