Echo Einer Winternacht
er, nur weil der klar vor ihm liegende Weg blockiert war, sein Streben einstellen sollte. Schließlich hatte er beim jahrelangen Programmieren Ausdauer gelernt. Er war nicht sicher, ob sich sein Wachestehen lohnen würde, aber er fühlte sich hierher gezogen. Wenn es nicht funktionierte, würde er eine andere Möglichkeit finden, das zu bekommen, was er wollte. Kurz nach sieben war er gekommen und zum Grab gegangen. Früher war er schon einmal da gewesen, wurde aber enttäuscht, da kein Gefühl der Nähe zu der Mutter in ihm aufkam, die er nie gekannt hatte. Dieses Mal legte er den diskreten Blumengruß vor dem Grabstein ab und ging dann zu dem bei seinem letzten Besuch ausgekundschafteten Aussichtspunkt. Er würde großenteils von der reich verzierten Grabstätte eines Stadtrats verdeckt sein und doch einen direkten Blick auf Rosies letzten Ruheplatz haben. Jemand würde kommen. Er war ganz sicher.
Aber jetzt, als die Zeiger seiner Uhr sich auf die Sieben zubewegten, begann er zu zweifeln. Es war ihm scheißegal, dass Lawson ihm gesagt hatte, er solle sich von seinen Onkeln fernhalten. Er würde den Kontakt herstellen, denn er war der Meinung, dass die Annäherung an einem so bedeutsamen Ort ihre feindlichen Gefühle verdrängen und sie ihn als jemanden sehen würden, der wie sie ein Recht darauf hatte, sich als zu Rosies Familie gehörig zu betrachten. Jetzt sah es allerdings so aus, als hätte er sich verrechnet. Der Gedanke machte ihn wütend. Aber in dem Moment sah er einen dunkleren Schatten, der sich vor den Gräbern abhob. Es zeigte sich, dass es die Umrisse eines Mannes waren, der auf dem Weg schnell auf ihn zukam. Macfadyen zog scharf die Luft ein.
Den Kopf wegen des Wetters gesenkt, verließ der Mann den Weg und verfolgte ohne Zögern eine Route zwischen den Gräbern. Als er näher kam, sah Macfadyen, dass er ein kleines Blumensträußchen trug. Der Mann verlangsamte seine Schritte und blieb etwa anderthalb Meter vor Rosies Grabstein stehen. Als er sich bückte, um die Blumen hinzulegen, trat Macfadyen vor, wobei der Schnee seine Schritte dämpfte. Der Mann richtete sich auf, trat einen Schritt zurück und rempelte dabei Macfadyen an.
»Was zum …«, rief er aus und drehte sich auf dem Absatz um.
Macfadyen hielt die Hände mit einer beschwichtigenden Geste hoch. »Tut mir leid. Ich wollte Sie nicht erschrecken.« Er schob die Kapuze seines Parkas nach hinten, damit er weniger bedrohlich aussah.
Der Mann sah ihn finster an und starrte ihm, den Kopf zur Seite gelegt, eindringlich ins Gesicht. »Kenne ich Sie?«, sagte er, wobei seine Stimme genauso angriffslustig war wie seine Körperhaltung.
Macfadyen zögerte nicht. »Ich glaube, Sie sind mein Onkel«, sagte er.
Lynn ließ Alex allein, damit er seinen Anruf machen konnte.
Der Kummer saß ihr wie ein drückender Stein in der Brust.
Zerstreut ging sie in die Küche und schnitt mechanisch Hähnchenfilets in Stücke, die sie mit grob gewürfelter Zwiebel und Paprika in eine gusseiserne Kasserolle gab. Sie goss ein Glas fertig gekaufte Soße darüber, gab einen Schuss Weißwein dazu und schob alles in den Ofen. Wie meistens hatte sie vergessen ihn vorzuwärmen. Mit einer Gabel stach sie zwei große Kartoffeln zum Backen an und legte sie auf den Rost über der Kasserolle. Alex hatte jetzt wahrscheinlich sein Gespräch mit Weird beendet, glaubte sie. Sie konnte das Gespräch mit ihrem Bruder nicht länger hinausschieben.
Jetzt, wo sie es überlegte, schien es ihr etwas merkwürdig, dass trotz ihrer Blutsverwandtschaft und trotz ihrer Geringschätzung hinsichtlich Weirds Variante von Hölle und Verdammnis Mondo das Mitglied der ursprünglichen Vierer-gruppe war, das sich am meisten von ihr gelöst hatte. Oft dachte sie, wenn sie nicht Geschwister wären, wäre er wahrscheinlich völlig aus Alex’ Empfangsbereich verschwunden. Geographisch gesehen war er ihnen drüben in Glasgow zwar am nächsten.
Aber am Ende ihrer Studienzeit hatte es ausgesehen, als wolle er alle Bindungen an seine Kindheit und Jugendzeit lösen.
Als Erster verließ er das Land und ging nach dem Abschluß-
examen nach Frankreich, um eine akademische Laufbahn einzuschlagen. In den drei nächsten Jahren war er kaum jemals nach Schottland gekommen, nicht einmal zum Begräbnis seiner Großmutter. Sie bezweifelte, dass er sich herbeigelassen hätte, zu ihrer Hochzeit mit Alex zu erscheinen, wäre er nicht damals schon in England gewesen, wo er Dozent an der Universität Manchester
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