Echo Einer Winternacht
war. Wann immer Lynn versucht hatte, den Grund seines Fernbleibens herauszufinden, hatte er das Thema gemieden. Ihr großer Bruder war schon immer sehr geschickt im Ausweichen gewesen.
Lynn, die fest verwurzelt blieb, konnte nicht begreifen, dass jemand sich von seiner persönlichen Geschichte so abkoppeln wollte. Und es war ja nicht so, als hätte Mondo eine beschissene Kindheit und eine schreckliche Jugend gehabt. Sicher, er war immer etwas weichlich gewesen, aber als er sich mit Alex, Weird und Ziggy zusammengetan hatte, wurden sie sein Bollwerk gegen die Schlägertypen. Sie erinnerte sich, wie sie die vier Jungs um ihre unerschütterliche Freundschaft und die lässige Art, wie sie immer zusammen Spaß hatten, um ihre grässliche Musik, ihre Aufmüpfigkeit und ihre völlige Gleichgültigkeit gegenüber der Meinung Gleichaltriger beneidet hatte. Es erschien ihr geradezu masochistisch, dass er ein solches System der Rückendeckung aufgegeben hatte. Er war immer schwach gewesen, das wusste sie. Wenn es Schwierigkeiten gab, war Mondo immer sofort davongerannt.
Aber das war in Lynns Augen nur ein weiterer Grund, weshalb er an den Freundschaften hätte festhalten sollen, die ihn durch so viele Schwierigkeiten getragen hatten. Sie hatte Alex gefragt, was er dazu meine, und er hatte die Schultern gezuckt.
»Im letzten Jahr in St. Andrews, da war es nicht leicht.
Vielleicht will er einfach nicht daran erinnert werden.«
Irgendwie klang das einleuchtend. Sie kannte Mondo gut genug, um zu verstehen, welche Scham und Schuldgefühle er wegen Barney Maclennans Tod empfunden hatte. In den Pubs hatte er die sarkastischen Sprüche der brutalen Kerle über sich ergehen lassen, die vorschlugen, er solle es doch das nächste Mal, wenn er sich umbringen wolle, richtig machen. Er hatte die Qual erlitten, sich dessen bewusst zu sein, dass seine ichbezogene Angeberei einem anderen Menschen das Leben gekostet hatte. Er hatte sich die therapeutische Beratung gefallen lassen müssen, die ihn hauptsächlich nur immer wieder an den schrecklichen Augenblick erinnerte, in dem sein Versuch, Aufmerksamkeit zu erregen, sich in den schlimmsten Albtraum verwandelt hatte. Sie nahm an, dass die Gegenwart der drei anderen nur der Auslöser für Erinnerungen war, die er auslöschen wollte. Sie wusste auch, dass Alex, obwohl er das nie aussprach, einen immer noch fortlebenden Verdacht nicht ganz abschütteln konnte, dass Mondo vielleicht mehr über Rosie Duffs Tod wusste, als er gesagt hatte. Was wirklich Unsinn war.
Wenn einer von ihnen in der Lage gewesen wäre, dieses bestimmte Verbrechen in dieser bestimmten Nacht zu begehen, dann wäre es Weird gewesen, der auf Grund der Mischung aus Alkohol und Drogen völlig durchgedreht und außerdem frustriert war, weil er mit seinen Streichen mit dem Landrover nicht so viel Eindruck bei den Mädchen machen konnte, wie er sich erhofft hatte. Seine plötzliche Wandlung vom Saulus zum Paulus war ihr schon immer komisch vorgekommen.
Aber was auch die tieferen Gründe waren, ihr Bruder hatte ihr in den letzten zwanzig Jahren oder mehr doch gefehlt. Als sie noch jünger war, hatte sie sich immer vorgestellt, dass er ein Mädchen heiraten würde, das dann ihre beste Freundin werden könnte. Dass sie sich dadurch, dass sie Kinder haben würden, noch näher kommen und sich zu einer dieser gemütlichen Großfamilien entwickeln würden, die dauernd zusammen-stecken. Aber nichts davon traf ein. Nach einer Reihe von nicht ernst zu nehmenden Beziehungen hatte Mondo schließlich Hélène geheiratet, eine Romanistikstudentin, die zehn Jahre jünger war als er und sich kaum bemühte, ihre Verachtung zu verbergen, die sie für jeden empfand, der nicht mit der gleichen Leichtigkeit über Foucault oder die Haute Couture parlieren konnte wie sie. Ganz offen sah sie auf Alex hinab, weil er sich fürs Geschäftemachen statt für die Kunst entschieden hatte.
Lynn behandelte sie wegen ihrer Karriere als Restauratorin mit gönnerhafter, lauwarmer Sympathie. Wie sie und Alex hatten sie bisher keine Kinder, aber Lynn hatte den Verdacht, dass es so gewollt war und auch so bleiben würde. Sie nahm an, dass die Entfernung die Übermittlung der Nachricht irgendwie leichter machen würde. Aber trotzdem war es eines der schwersten Dinge, die sie je hatte tun müssen, den Hörer hochzunehmen.
Beim zweiten Läuten war Hélène dran.
»Hallo, Lynn. Wie nett, von dir zu hören. Ich hole gleich David«, sagte sie, und ihr fast perfektes
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