Echo Einer Winternacht
geschafft. Probleme mit der Zeitumstellung?« Sie kam herein und legte einen Arm um seine Taille.
»Wahrscheinlich.«
»Und Mondo hat auch nicht gerade geholfen, oder?«
Alex nickte. »Das hätte nicht unbedingt sein müssen.«
»Ich nehme an, er hat sich das keinen Augenblick überlegt. Mein egoistischer Bruder meint, wir sind alle zu seiner Bequemlichkeit auf dem Planeten. Ich habe versucht, ihn davon abzubringen.«
»Das bezweifle ich nicht. Er hat immer schon den Dreh rausgehabt, dass er nicht hört, was er nicht hören will. Aber er ist kein schlechter Mensch, Lynn. Schwach und egozentrisch, sicher. Aber nicht bösartig.«
Sie rieb ihren Kopf an seiner Schulter. »Es kommt davon, dass er so gut aussieht. Er war so ein schönes Kind, dass alle nachsichtig mit ihm waren, wo immer er hinkam. Früher hasste ich ihn deswegen. Er wurde bewundert, ein kleiner Engel von Donatello. Die Leute waren hingerissen von ihm. Und dann schauten sie mich an, und man sah ihnen an, dass sie verblüfft waren. Wie konnte ein so hübscher Junge eine so hässliche Schwester haben?«
Alex lachte leise in sich hinein. »Und dann ist das hässliche Entlein selbst ein schöner Schwan geworden.«
Lynn stieß ihn in die Rippen. »Was ich immer an dir gemocht habe, war deine Fähigkeit, in Bezug auf die wirklich unwichtigen Dinge überzeugend zu lügen.«
»Ich lüge nicht. Irgendwann um die Zeit herum, als du vierzehn wurdest, warst du plötzlich nicht mehr unscheinbar und fingst an toll auszusehen. Vertrau mir, ich bin doch Maler.«
»Eher ein Schönmaler. Nein, was das Aussehen betrifft, hat mich Mondo immer ausgestochen. In letzter Zeit habe ich darüber nachgedacht und über die Dinge, die meine Eltern getan haben und die ich nicht wiederholen will. Wenn unser Baby eine Schönheit wird, will ich nie großes Aufhebens darum machen.
Ich will, dass unser Kind Selbstvertrauen entwickelt, aber nicht dieses Gefühl, das Mondo verdorben hat, dass ihm alles selbstverständlich zusteht.«
»Dagegen werde ich bestimmt nichts haben.« Er legte eine Hand auf ihren runden Bauch. »Hörst du das, Junior? Keine Flausen, alles klar?« Er beugte sich hinunter und küsste Lynn auf den Scheitel. »Ziggys Tod hat mich ängstlich gemacht. Ich will einfach nur, dass ich mein Kind neben mir aufwachsen sehen darf. Aber alles ist so ungewiss. Eine Minute ist jemand noch da, und in der nächsten ist er verschwunden. Ziggy hat so vieles ungetan zurücklassen müssen, und jetzt werden diese Dinge nie getan werden. Ich will nicht, dass mir das passiert.«
Lynn nahm ihm vorsichtig seinen Tee ab und stellte ihn auf den Wickeltisch. Sie zog ihn in ihre Arme. »Hab keine Angst«, sagte sie. »Alles wird gut werden.«
Er hätte ihr gern geglaubt. Aber er war noch zu sehr mit den Gedanken bei der Vergänglichkeit, um ganz überzeugt zu sein.
Karen Pirie riss den Mund weit auf und gähnte, während sie auf das Summen des Türöffners wartete. Als es kam, stieß sie die Tür auf, ging langsam durch den Korridor und nickte im Vorbeigehen dem Wachmann in seinem Büro zu. Oh Gott, wie sie diese Asservatenkammer hasste. Es war Weihnachten, alle anderen bereiteten sich auf die festliche Zeit vor, und wo war sie? Sie hatte das Gefühl, als beschränke sich ihr ganzes Leben nur noch auf diese langen Gänge des Archivs mit Kartons, deren Inhalt miese Geschichten über die Verbrechen von Dummköpfen, Versagern und Neidern erzählte. Dies war nicht die einzige Ermittlungsrichtung, die sie einschlagen konnte. Sie wusste, dass sie irgendwann anfangen musste, die Zeugen noch einmal zu vernehmen. Aber ihr war auch klar, dass in alten ungelösten Fällen wie diesem das Beweismaterial der Schlüssel zu allem war. Mit den modernen technischen Mitteln der Gerichtsmedizin konnten die Beweisstücke stichhaltige Ergebnisse liefern, die die Zeugenaussagen weitgehend überflüssig machten.
Alles gut und schön, dachte sie. Aber es gab Hunderte von Kartons im Lager. Und sie musste jeden einzelnen durchsuchen.
Bis jetzt hatte sie ein Viertel der Behälter gesichtet, schätzte sie.
Das einzige positive Ergebnis war, dass ihre Armmuskulatur trainiert wurde, wenn sie die Kartons die Leitern herunter-und hinaufschleppte. Wenigstens hatte sie ab morgen zehn wunderbare Tage Urlaub, und die einzigen Kartons, die sie dann noch auspacken würde, würden nettere Dinge enthalten als die Überbleibsel von Verbrechen. Sie tauschte einen Gruß mit dem Kollegen vom Dienst und wartete, bis
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