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Echo Einer Winternacht

Titel: Echo Einer Winternacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Val McDermid
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längst vorüber. Vielleicht passierte das sowieso, wenn man erwachsen wurde. Aber Alex hatte den Verdacht, dass es mehr mit dem zu tun hatte, was Rosie Duffs Tod ihnen allen über sich selbst und die anderen gezeigt hatte.
    Bis jetzt war es nicht sehr erbaulich gewesen. Mondo hatte sich hinter Selbstsucht und Sex verschanzt; Weird war auf einem fernen Planeten gelandet, wo sogar die Sprache unverständlich war. Nur Ziggy war sein Vertrauter geblieben, aber selbst er schien jetzt spurlos verschwunden zu sein. Und unter allem verborgen bildeten als hässlicher Kontrapunkt zum alltäglichen Leben Argwohn und Zweifel einen Missklang, der sich immer weiterfraß. Mondo hatte die bösen Worte ausgesprochen, aber Alex selbst hatte dem Wurm des Misstrauens schon reichlich Nahrung geboten.
    Einesteils hoffte er, dass alles sich beruhigen und zur Normalität zurückkehren würde. Aber andererseits wusste er, dass manche Dinge nicht wiederhergestellt werden können, wenn sie erst einmal zerbrochen sind. Als er an das Wiederherstellen dachte, fiel ihm Lynn ein, und er lächelte. Am Wochenende würde er nach Hause fahren. Sie würden in Edinburgh ins Kino gehen und sich Der Himmel soll warten mit Julie Christie und Warren Beatty ansehen. Eine romantische Komödie, das war doch ein guter Anfang. Sie hatten eine unausgesprochene Übereinkunft, in Kirkcaldy nicht auszugehen.
    Es gab da zu viele Zungen, vielleicht nicht einmal böse, die aber doch zu einem vorschnellen Urteil bereit sein würden. Trotzdem dachte er daran, Ziggy davon zu erzählen. Eigentlich hatte er es ihm heute Abend sagen wollen. Aber wie der Himmel konnte auch das noch warten. Keiner von ihnen hatte ja vor zu verreisen.
     
    Ziggy hätte alles, was er besaß, dafür gegeben, an irgendeinem anderen Ort zu sein. Es kam ihm vor, als sei er schon vor Stunden in das Verlies geworfen worden. Er war eiskalt bis auf die Knochen. Der feuchte Fleck, wo er sich nassgemacht hatte, fühlte sich lausig kalt an, Penis und Hoden waren auf Kindergröße zusammengeschrumpft. Und er hatte seine Hände noch immer nicht freibekommen. In Armen und Beinen hatte er Krämpfe, deren quälender Schmerz ihn zum Weinen gebracht hatte. Aber endlich meinte er, dass der Knoten sich lockerte.
     
    Jetzt drückte er den Kiefer noch einmal fest auf den Nylonstrick und drehte den Kopf hin und her. Und siehe da, der Strick bewegte sich tatsächlich etwas mehr. Entweder stimmte es tatsächlich, oder er war so verzweifelt, dass er sich einen Fortschritt einbildete. Noch einmal ein Ruck nach links und wieder zurück, diese Bewegung wiederholte er mehrmals. Als das Ende des Stricks schließlich frei war, flog es ihm direkt ins Gesicht, und Ziggy brach in Tränen aus. Nachdem dieser erste Knoten gelöst war, ließ sich der Rest leicht aufmachen. Plötzlich waren seine Hände frei. Taub und starr, aber frei. Seine Finger kamen ihm so dick und kalt wie Würstchen aus dem Supermarkt vor. Er steckte sie in seiner Jacke unter die Achselhöhlen.
    Axillae, dachte er und erinnerte sich, dass Kälte ein Feind des Denkens war, weil das Gehirn dann langsamer arbeitete. »Denke anatomisch«, sagte er laut vor sich hin und erinnerte sich daran, wie er mit einem anderen Studenten gekichert hatte, als sie lasen, wie eine ausgerenkte Schulter wieder gerichtet werden konnte. »Stecken Sie einen mit einem Strumpf bekleideten Fuß in die Achselhöhle«, hatte der Text gelautet. »Anleitung zum Transvestismus für Ärzte«, hatte sein Freund gesagt. »Ich darf die schwarzen Seidenstrümpfe im Notkoffer nicht vergessen, falls mir eine ausgerenkte Schulter unterkommen sollte.«
    So musste man es machen, um am Leben zu bleiben, dachte er.
    Das Gedächtnis trainieren und sich Bewegung verschaffen. Jetzt wo ihm seine Arme zur Verfügung standen, konnte er umhergehen und auch auf der Stelle treten. Eine Minute joggen, dann zwei Minuten ausruhen. Was in Ordnung wäre, wenn er auf seine Uhr sehen könnte, war sein logischer, aber hier nicht gerade sinnvoller Gedankengang. Zum ersten Mal wäre er jetzt gern Raucher gewesen. Dann hätte er Streichhölzer oder ein Feuerzeug gehabt. Etwas, um diese entsetzliche, absolute Finsternis zu durchbrechen. »Verlust der Sinnes-Wahrnehmungen«, sagte er. »Du musst das Schweigen brechen, musst mit dir selbst sprechen. Oder singen.«
     
    Die Taubheit in seinen Händen erschreckte ihn. Er nahm sie aus den Taschen, schüttelte sie kräftig und massierte dann unbeholfen mit der einen Hand jeweils

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