Echt zauberhaft
Innenseite
senkrecht. Sie verläuft an Stränden, erstreckt sich in leeren Wüsten und
über steile Klippen, wo die Wahrscheinlichkeit eines Angriffs von außen
gegen nul tendiert. Auf Inseln wie Bhangbhangduc und Tingling gibt es
ähnliche Mauern, die im metaphorischen Sinn al e dieselbe Mauer sind.
Wer zum militärischen Nichtdenken neigt, findet so etwas seltsam und
erkennt vermutlich nicht die wahre Funktion des Bauwerks.
Die Mauer ist nicht nur eine Mauer, sondern auch eine Markierung.
Auf der einen Seite liegt das Reich – ein Wort, das im Achatischen auch
»Universum« bedeutet. Auf der anderen Seite ist… nichts. Das Univer-
sum enthält per definitionem al es, was existieren kann.
Es mag den Anschein haben, als existierten noch andere Dinge wie
Meere, Inseln und Kontinente. Sie könnten erstaunlich echt wirken, und
vielleicht ist es sogar möglich, sie zu erobern, auf ihnen umherzuwan-
dern… Aber letztendlich sind sie nicht Teil der Realität. Im Achatenen Reich verwendet man das Wort für »Ausländer« auch für »Phantome«;
und man braucht nur einen Pinselstrich hinzuzufügen, um »Opfer« dar-
aus zu machen.
Die Mauer ist an der Innenseite steil, um jene langweiligen Leute zu
entmutigen, die weiterhin glauben wol en, auf der anderen Seite gäbe es
irgendwelche interessanten Dinge. Erstaunlicherweise kommt es auch
nach Jahrtausenden immer wieder vor, daß sich Personen weigern, ein-
sichtig und vor allem gehorsam zu sein. Im Bereich der Küsten bauen sie
Flöße und brechen zu fernen, sagenhaften Ländern auf. Weiter im Lan-
desinneren benutzt man große Drachen, die Menschen tragen, oder
Stühle, die von Feuerwerkskörpern angetrieben wurden. Viele Unein-
sichtige kommen bei ihren Fluchtversuchen ums Leben. Die meisten
anderen werden gefaßt und bekommen Gelegenheit, in interessanten
Zeiten zu leben.
Doch manche schafften es bis zum großen Schmelztiegel namens
Ankh-Morpork. Sie trafen ohne Geld dort ein – die Kapitäne verlangten
die Preise, die der Markt zuließ: Sie nahmen den Flüchtlingen al es ab –, aber sie hatten ein seltsames Glühen in den Augen, eröffneten Läden
und Restaurants und arbeiteten vierundzwanzig Stunden am Tag. Man
sprach in diesem Zusammenhang vom Ankh-Morpork-Traum – der
Traum, einen Haufen Geld zu verdienen, an einem Ort, wo der eigene
Tod nicht zum Instrument der Politik wurde. Und davon träumten vor
al em Leute, die nicht schliefen.
Rincewind glaubte, daß die Augenblicke des Erwachens in seinem Leben
eine besondere Rol e spielten. Sie waren nicht immer schrecklich.
Manchmal genügte das Wort »unangenehm«, um sie treffend zu be-
schreiben. In einigen – zugegebenermaßen sehr wenigen – Fäl en hatte er
dabei sogar den Eindruck, daß ein innig gehegter Wunsch in Erfül ung
ging. Zum Beispiel auf der Insel: Die Sonne ging stumpfsinnig auf, und
die Wel en rollten langweilig an den Strand. Konnte man sich mehr wün-
schen?
Gelegentlich gelang es ihm sogar, ohne den sonst üblichen Schreckens-
schrei aufzuwachen.
Im jetzigen Fall war das Erwachen… ungemütlich. Er wurde hin und
her gestoßen; jemand hatte ihm die Hände gefesselt; es war dunkel, vor
allem wegen des Sacks über seinem Kopf.
Rincewind rechnete kurz.
Bisher gibt es nur sechzehn schlimmere Tage in meinem Leben, dachte
er.
Es war al es andere als ungewöhnlich, in einer Kneipe bewußtlos ge-
schlagen zu werden. Wenn das in Ankh-Morpork geschah, mußte man
damit rechnen, mit leeren Taschen auf dem Ankh zu erwachen. Oder im
Speigatt eines Schiffes, das zu einer langen und besonders unpopulären
Reise aufbrach – in diesem Fal bestand die al es andere als erfreuliche
Perspektive darin, die nächsten beiden Jahre Ozeanwel en zu pflügen.*
Wer auch immer zuschlug: Normalerweise wol te er, daß sein Opfer am
Leben blieb. Die Diebesgilde legte darauf großen Wert. Dort hieß es:
»Wenn man jemanden zu fest schlägt, kann man ihn nur einmal ausrau-
ben. Schlägt man jedoch gerade fest genug, kann man den Betreffenden jede Woche bestehlen.«
Wenn Rincewind auf einem Karren lag – und dafür sprachen gewisse
Anhaltspunkte –, dann wollte jemand, daß er am Leben blieb.
Er bedauerte diesen Gedanken.
Kurze Zeit später nahm ihm jemand den Sack ab. Ein schreckliches
Gesicht starrte auf ihn herab.
»Ich würde gern deinen Fuß essen!« sagte Rincewind.
»Sei unbesorgt. Ich bin ein Freund.«
Hände schoben die Maske beiseite, und darunter kam
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