Echte Morde
können, wenig, was ich nicht schon wusste. Nachdenklich runzelte ich die Stirn: Was war denn so wichtig an Marnies Handtasche? Ansonsten fehlte jeder Hinweis darauf, dass sich dieser Mord irgendwie von anderen unterschied. Hatte die Polizei die Medien gebeten, bestimmte Einzelheiten zu verschweigen? Wobei die sich in Lawrenceton schnell herumsprechen würden, da war ich hundertprozentig sicher. Unsere Stadt war im Herzen ein Dorf geblieben, trotz all der Zugezogenen, die von hier aus nach Atlanta pendelten.
Mein Name stand auch in der Zeitung: „Ms. Teagarden, besorgt durch das lange Ausbleiben Mrs. Wrights, durchsuchte das Gebäude und entdeckte in der Küche die Leiche der Vermissten."
Ich musste schlucken. „Fand die Leiche" - gedruckt las sich das so einfach.
Beim Herunterkommen hatte ich den Telefonhörer wieder richtig aufgelegt. Jetzt klingelte es. „Mutter!", dachte ich seufzend und ging zurück in die Küche, wo ich mir erst einmal frischen Kaffee nachgoss, ehe ich den Anruf entgegennahm.
„Geht es dir wirklich gut?", wollte meine Mutter fürsorglich wissen. „John hat mir alles erzählt. Er war gestern noch bei mir, nachdem ihm die Polizei erlaubt hatte zu gehen."
Sieh an, sieh an, Queensland gab sich ja reichlich Mühe bei meiner Mutter. Na ja, warum auch nicht? Sie war jetzt schon so lange solo (wenn auch beileibe nicht immer allein).
„Ja, mir geht es eigentlich ganz gut", sagte ich vorsichtig.
„War es schlimm?"
„Ja", sagte ich und meinte es auch so. Warum sollte ich ihr oder mir etwas vormachen? Marnies Leiche zu finden war furchtbar gewesen, aber auch interessant, und je mehr Zeit verging, je mehr Stunden mich von dem eigentlichen Ereignis trennten, desto interessanter und zugleich erträglicher wurde das Nachdenken darüber. Aber ich wollte auch die Erinnerung an das Entsetzen nicht verlieren, denn nur solange wir uns an unser Entsetzen erinnern, bleiben wir zivilisiert.
„Es tut mir leid", meinte Mutter etwas hilflos. Dann wussten wir beide nicht, was wir als nächstes sagen sollten. „Dein Vater hat mich angerufen!", platzte sie schließlich heraus. „Du hattest wohl den Hörer neben die Gabel gelegt?"
„Ja."
„Er hat sich Sorgen gemacht. Einmal um dich, und dann erwähnte er noch, dass Phillip nächstes Wochenende zu dir kommen sollte. Er fragt sich, ob das wohl noch geht. Wenn nicht, sollst du ihn anrufen, er organisiert dann etwas anderes." Mutter gab sich wirklich redlich Mühe und schimpfte ihren Exmann keinen egoistischen Schweinehund, obwohl man ihr anhörte, wie empörend sie sein Verhalten fand. Wie konnte er in solch einer Situation an seine Wochenendpläne denken?
Phillip war mein Halbbruder, ein wundervoller, sehr aktiver Sechsjähriger, den ich von Zeit zu Zeit ein ganzes Wochenende lang ertragen konnte, ohne dass meine Nerven Schiffbruch erlitten. Mein Vater und seine zweite Frau Betty Jo (klang etwas anders als Aida Teagarden, nicht wahr?) wollten am kommenden Wochenende an einer Tagung in Chattanooga teilnehmen. Daran hatte ich überhaupt nicht mehr gedacht.
„Ich melde mich im Laufe des Tages bei ihm", sagte ich. „Das mit Phillip geht schon in Ordnung."
„Na ja", meinte Mutter zweifelnd. „Ruf mich an, wenn ich etwas für dich tun kann. Ich könnte dir das Mittagessen vorbeibringen, oder du kommst einfach her und bleibst bei mir."
„Nein, lass nur, mir geht es wirklich gut!" Das war leicht übertrieben, aber nur leicht. Zu gern hätte ich jetzt etwas Bedeutungsvolles zu Mutter gesagt, etwas, das meine wahren Gefühle ehrlich zum Ausdruck brachte, etwas Unvergessliches. Aber das war unmöglich, denn das Einzige, was ich ihr hätte sagen können, ließ sich nicht sagen. Ich hätte sagen müssen, dass ich mich so lebendig fühlte wie seit Jahren nicht mehr. Dass in meinem Leben endlich einmal etwas geschah, was größer war als ich.
Hier ging es nicht um einen historischen Mord, den ich auf dem Papier nachzuvollziehen bemüht war, hier ging es nicht um längst erloschene Leidenschaft und Verzweiflung - das Böse, mit dem ich mich jetzt konfrontiert sah, tauchte nicht nur als Bleisatz auf dem Papier auf. Was sich am Vorabend zugetragen hatte, betraf mit allem, was dazu gehörte, Menschen, die ich kannte.
Menschen, die um mich herum waren. Das alles sagte ich nicht. Ich wiederholte nur noch einmal, dass es mir wirklich gut ginge. „Die Polizei kommt heute Morgen noch einmal vorbei", fügte ich hinzu. „Ich muss mich langsam fertig
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