Echte Morde
Bücher vor, versuche herauszufinden, welcher alleinstehenden Frau ich ähnele. Welchem Opfer aus dem Bericht über einen historischen Mordfall."
Mit offenem Mund starrte ich sie an. Was hatte Jane durchgemacht? Worauf hatte ihr Kopf, der so aktiv war und höchstwahrscheinlich sogar recht hatte, sie gebracht? Ich war erschüttert.
Dann kam eine Mutter mit zwei widerstrebenden Kleinkindern im Schlepptau durch die Tür, und Jane nutzte die Gelegenheit. Sie schlüpfte hinaus, um nach Hause zu gehen und in ihren True-Crime-Büchern zu blättern, auf der Suche nach einem Muster, das auf sie passte.
Gott sei Dank befanden sich noch andere Leute in der Bücherei, als Gifford Doakes kam, sonst wäre ich vielleicht schreiend davongelaufen. Gifford, der Massaker-Enthusiast, hatte in meinem Kopf immer schon Warnlichter zum Aufblitzen gebracht.
Schon immer hatte ich mir bei ihm genau überlegt, was ich sagen sollte, hatte alle Gesprächsthemen sorgfältig ausgesucht.
Obwohl ich gar nicht allzu viel über den Mann wusste, hatte ich stets instinktiv Abstand zu ihm gehalten. So viel, wie im Rahmen der Höflichkeit gerade noch möglich war.
Zu Gifford wollte man einfach höflich sein - man hatte Angst davor, es nicht zu sein.
Ich hatte keine Ahnung, womit Gifford seinen Lebensunterhalt bestritt, aber er kam daher wie ein Drogenboss aus „Miami Vice": extrem modische Kleidung, das lange Haar sorgfältig geschnitten und frisiert. Es hätte mich nicht gewundert, hätte ich unter seinem Jackett ein Schulterhalfter entdeckt.
Vielleicht war Gifford ja ein Drogenboss.
Nun kam er in die Bibliothek geschlendert, wo er sofort den Ausleihtresen ansteuerte. Ich sah mich verstohlen um. Ein paar Minuten zuvor waren Melanie und Bankston hereingekommen, unser dynamisches Duo, lachend, die Köpfe dicht zusammengesteckt. Bankston entdeckte ich jetzt oben in der Abteilung für Biographien, Melanie blätterte im Erdgeschoss eine Ausgabe einer Hausfrauenzeitschrift durch, wahrscheinlich auf der Suche nach einem neuen Rezept für Hackbraten. Völlig egal: Sie war in Rufweite, die gute Seele.
Gifford baute sich vor mir auf, nur noch der Tresen trennte mich von ihm. Automatisch schloss sich meine Hand um den nächstbesten Gegenstand, einen Hefter. Na prima, wirklich eine eindrucksvolle Waffe! Draußen vor der doppelt verglasten Eingangstür tigerte Giffords getreuer Schatten Reynaldo unruhig auf dem fast dunklen Parkplatz auf und ab. Mal tauchte er im Lichtkreis einer der Bogenlampen auf, die theoretisch da draußen für mehr Sicherheit sorgen sollten, mal verschwand er in vollkommener Düsternis, nur um Sekunden später erneut wieder zu sehen zu sein.
„Wie geht's denn so, Roe?", fragte Gifford freundlich.
„Ganz gut."
„Hör mal, habe ich das richtig verstanden? Ihr habt heute die Mordwaffe im Fall Buckley gefunden? Du und dieser Schriftsteller?"
Im Fall Buckley? Plötzlich hatte ich eine Vision: eine Anthologie mit Schilderungen der schillerndsten Morde des Jahrzehnts, mittendrin der Bericht über das Blutbad an Lizannes Eltern.
Andere Menschen würden nachlesen können, wie Arnie und Elsa gestorben waren, würden Hypothesen über Tatmotiv und Tathergang aufstellen, wie ich es so oft bei anderen ungeklärten Fällen getan hatte. War es die Tochter? Oder der Bulle aus dem Club Echte Morde? All die Mordfälle in unserer kleinen Stadt würden zum Buch werden. Joe McGuiness würde es schreiben, oder Joan Barthel, oder auch Robin, sollte seine Lust am Sachbuch wieder erwachen - und ich würde auch darin vorkommen, schon wegen der Pralinen. Vielleicht ja nur als Halbsatz: „Als der Karton mit den Pralinen im Haus von Mrs. Teagardens Tochter Aurora eintraf..."
Ein paar Sekunden lang herrschte Wirrwarr in meinem Kopf: Wo war ich hier eigentlich? In einem Buch über historische Morde? Oder geschah das alles wirklich, hier, mit mir? Ich sehnte mich nach dem Abstand zum Geschehen, den ein Buch gewährte, aber Gifford mit dem Ring im Ohr war nur zu wirklich, und dieser Reynaldo, der wie ein Panther über den höchst alltäglichen Parkplatz unserer Bibliothek tigerte, nicht weniger.
„Erzähl mir was über die Axt", drängte der höchst reale Gifford.
„Es war ein Beil. Eine Axt würde nicht in eine Aktentasche passen." Mein Gott, wie kam ich dazu, einem furchterregenden Mann wie Gifford zu widersprechen? Hatte mein Unterbewusst-sein bemerkt, was jetzt auch dem bewussten Teil meines Hirns klarwurde: dass Gifford auf einer Mission war und
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