Echte Morde
Umständen hätte ich ihm auch mit mehr Anteilnahme zugehört. Aber mir tat die Hand weh, und ich hatte schreckliche Angst.
Ich konnte die Schere kaum mehr spüren, war mir doch sämtliches Gefühl aus den Fingern gewichen.
An einem Tag voll merkwürdiger Begebenheiten stellte diese nun den Höhepunkt dar, dieser verrückte Mann, der mich anschrie, dessen intensive, zutiefst gestörten Gefühle sich in einem ruhigen, zivilisierten Haus über mich ergossen, in das die Menschen sonst kamen, um sich ruhige, zivilisierte Bücher auszusuchen.
Perry fing an, mich zu schütteln, weil er wohl fand, ich höre ihm nicht richtig zu. Seine eine Hand umfasste mein Handgelenk, die andere meine Schulter, die sich anfühlte, als würde sie in einem Schraubstock stecken, und die ganze Zeit über hörte er nicht auf zu reden. Wütend, unglücklich, voller Kummer und Selbstmitleid.
Langsam, aber sicher erwachte ich aus meiner zeitweisen Er-starrung, und dann riss etwas in mir: Ich wurde wütend. Ich hob den Fuß und trat Perry mit voller Wucht auf den Spann. Er schrie auf, ließ mich los, und ich hastete zur Tür.
Wo ich mit Sally Allison kollidierte.
„Mein Gott!", fragte sie erregt mit heiserer Stimme. „Alles klar? Er hat dir doch nichts getan? Perry?", schrie sie ohne meine Antwort abzuwarten über meinen Kopf hinweg ihren Sohn an.
„Was ist nur in dich gefahren?"
„Oh, Mama!", stöhnte Perry verzweifelt und fing an zu weinen.
„Er hat Drogen genommen", sagte ich außer Atem. Sie schob mich ein Stück von sich weg, sah nach, ob ich sichtbare Verletzungen davongetragen hatte, und stieß einen hörbaren Seufzer der Erleichterung aus. Nun erst entdeckte sie die Schere in meiner Hand und war entsetzt. „Du wolltest ihm doch nicht etwa wehtun?", fragte sie.
„So was kann auch nur eine Mutter sagen." Ich schüttelte den Kopf. „Schaff ihn hier raus."
„Bitte, hör mir zu, Roe!", beschwor mich Sally. Ich hatte immer noch Angst, empfand dieses Flehen aber außerdem noch als höchst unangenehm. Noch nie hatte mich jemand angebettelt, und das, was Sally gerade tat, konnte man nur als verzweifeltes Betteln bezeichnen. „Perry hat seine Medikamente nicht genommen. Es geht ihm gut, wenn er seine Medizin nimmt. Das weißt du! Er geht zur Arbeit und funktioniert auch gut, er kann die Arbeit erledigen. Niemand hat sich bisher beschwert, oder? Bitte erzähl niemandem, was heute passiert ist."
„Was soll sie niemandem erzählen?", mischte sich über meinem Kopf eine leise Männerstimme in unser Gespräch. Rob war lautlos hereingekommen. Ich sah in sein faltiges Gesicht, auf den sehr ernsten Mund mit den Fältchen darum, und war so froh, ihn zu sehen, dass ich am liebsten geweint hätte. „Ich wollte nach dir sehen", sagte er einfach. „Mrs. Allison, ich glaube, wir haben uns auf dem Clubtreffen kennengelernt."
„Ja." Sally gab sich Mühe, sich zusammenzureißen. „Perry! Komm."
Perry kam, das nasse Gesicht müde und ausdruckslos, die Schultern zusammengesackt.
„Lass uns nach Hause fahren", schlug seine Mutter vor. „Wir müssen reden. Wir haben doch eine Vereinbarung, Perry, du hast mir etwas versprochen."
Ohne mich anzusehen oder auch nur ein Wort zu sagen, folgte Perry seiner Mutter aus der Tür. Ich sank an Robins Brust und weinte, immer noch mit der blöden Schere in der Hand.
Er strich mir schweigend über das Haar. „Ich muss abschließen", sagte ich, als das Schlimmste vorbei war. „Ich mache jetzt Schluss, und wenn der Weihnachtsmann kommt und ein Buch will, mir ist das egal! Diese Bibliothek hat jetzt zu."
„Willst du mir erzählen, was los war?"
„Darauf kannst du Gift nehmen, aber erst muss ich hier raus."
Nur ungern trennte ich mich von der breiten Brust und den Armen, die mich hielten. Es war so schön gewesen, sich ein paar Sekunden lang von einem großen, starken Mann beschützen zu lassen, aber ich wollte raus dort und heimfahren. Mehr als alles andere wollte ich heim. Mit ein wenig Glück ließ sich die schöne Szene von eben zu Hause wiederholen, wo wir es noch dazu viel bequemer hatten.
KAPITEL FÜNFZEHN
„Vielleicht gibt es ja mehr als einen Mörder!", dachte Robin laut, während er sich eine Salzstange in den Mund schob.
Es sah nicht mehr aus, als würde sich zwischen uns in dieser Nacht noch Romantisches entwickeln; die Stimmung war verflogen.
„Robin! Das kann ich mir nicht vorstellen! Gleich zwei Menschen in Lawrenceton, die so böse sind?" Einer war doch schon schlimm genug,
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