Echte Vampire beißen sanft
mich der Herr im Himmel zu sich rufen. Neben mir saß eine Vampirin in CiCis Alter, die mir bei einem derartigen Vorfall schon einmal zu Hilfe gekommen war. Sie stammte aus England, trug teure Kostüme und schicke Hüte und roch irgendwie vertraut, was nicht nur daran lag, dass sie eine von uns war. Woran erinnerte mich dieser Geruch bloß? Ich kam nicht darauf, und irgendwann vergaß ich es wieder.
Flo und ich kommen, wie gesagt, gern hierher, weil der Pastor, ein charismatischer,stattlicher Mann namens lohn, mit seinen Predigten stets positive Stimmung verbreitet. Auch diesmal ging es wie so oft darum, das Beste aus seinem Leben zu machen, und um Gottes bedingungslose Liebe zu seinen Schäfchen,ganz egal, was sie sich zuschulden kommen lassen. Dabei schien er uns von den Flachbildschirmen, die überall im riesigen Altarraum angebracht waren, geradewegs in die Augen zu blicken. Er ermahnte uns, die Quelle unseres Lebensglücks
nicht in der Vergangenheit zu suchen, sondern in der Zukunft. Gute Idee. Ich bin nicht gerade stolz auf meine Vergangenheit.
Ich betrachtete Flo von der Seite und fragte mich, wie sie sich ihr künftiges Lebensglück vorstellen mochte. Dann bat uns Pastor John, den Kopf zu beugen und uns zu überlegen, was wir uns für unsere Zukunft wünschten. Ich schloss die Augen und ging in mich. Ein florierendes Unternehmen, gute Freunde und Blade.Auch Richard machte eine kurze Stippvisite. Vielleicht, weil wir uns in letzter Zeit so oft gesehen hatten. Er hatte ja auch einen tollen Körper, und...
Die Vampirin neben mir stieß mich unsanft mit dem Ellbogen an. Ach richtig,sie gehörte zu diesen verfluchten – äh,Verzeihung -, verwünschten Zeitgenossen, die die Gedanken anderer Leute lesen. Sie schickte mir ein mentales Telegramm, um mich daran zu erinnern, wo ich war. In der Kirche. Richtig. Nicht ein Ort, um von muskulösen Männerkörpern zu fantasieren...
Autsch. Erneut bekam ich ihren Ellbogen zu spüren. Flo, der dieser kleine Zwischenfall nicht entgangen war, schmunzelte zu mir herüber, doch als meine Sitznachbarin ihr ebenfalls einen strafenden Blick zuwarf, wurde sie unvermittelt wieder ernst und beugte ehrfürchtig das Haupt, als würden sie sich kennen. Ich versuchte vergeblich, meinerseits die Gedanken der wohlbehüteten Dame zu lesen. Dann setzte die Musik wieder ein,und ich stimmte in den Gesang ein und konzentrierte mich darauf, mich unauffällig zu verhalten, sprich, nicht vom Boden abzuheben, obwohl ich nur zu gern an die Kirchendecke geschwebt wäre.
Als wir nach der Messe den Umstehenden die Hände schüttelten, richtete meine Sitznachbarin das Wort an mich.
»Gloriana, ich bin Sarah Mainwaring.« Sie lächelte. »Ich glaube, Sie kennen meinen Sohn.«
»Sie sind Richards Mutter?« Ich starrte sie mit offenem Mund an. Wow Richard war ein Kreuzritter gewesen, also musste sie...
»Eine Lady spricht niemals über ihr Alter, nicht wahr, Florence?« Sarah schenkte meiner Mitbewohnerin ein Lächeln, das diese nicht sonderlich enthusiastisch erwiderte.
»Signora.« Flo nickte flüchtig und wandte sich dann zum Gehen.
»Moment!«, rief ich ihr nach. »Mrs Mainwaring...«
»Bitte nennen Sie mich Sarah, Gloriana.«
»Äh, Sarah, wie kommt es, dass ich Sie noch nie mit Richard oder auf einer Vampirversammlung angetroffen habe?«
»Tja, das liegt daran, dass mein Sohn und ich in manchen Dingen unterschiedlicher Meinung sind.« Aus dem Blick, den sie Flo zuwarf, schloss ich, dass zu diesen Dingen unter anderem auch italienische Sexgöttinnen zählten. »Wir gehen meist getrennte Wege. Er würde sich zum Beispiel auch nie in einer Freikirche wie dieser hier blicken lassen.« Sie machte eine elegante Handbewegung. »Ich glaube, er hält mich für eine Ketzerin. Wir waren katholisch, vor sehr, sehr langer Zeit.«
»Waren wir das nicht alle irgendwann?«, brummte Flo und packte meinen Ellbogen. »Wenn Sie uns jetzt entschuldigen würden, Sarah, Glorianas Hunde warten draußen auf uns.«
»Besuchen Sie mich doch einmal in meinem Geschäft«, bat ich Sarah. Sie ist eine der wenigen Vampirinnen, die bereits weit über zwanzig sind und wie CiCi eher den mütterlichen Frauentyp verkörpern.
Ich hatte mich zu ihr hingezogen gefühlt,seit ich sie das erste Mal gesehen hatte. Ich weiß, ich bin unverbesserlich, doch in diesem Fall war ich nicht nur auf der Suche nach einem Mutterersatz. Sarah erinnert mich einfach an meine Wurzeln. Sie ist durch und durch Engländerin, von der Feder auf
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