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Ed King

Ed King

Titel: Ed King Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: David Guterson
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Abkürzungen waren nur schwer zu entziffern, und die Schrift, in der er seine Termine vermerkte, war noch unleserlicher als bei den meisten Ärzten, aber Ed sah, dass Dan und Alice im April 63 in Kalifornien gewesen waren. Gut möglich, dachte Ed, dass sie auf der Rückfahrt einen kalifornischen beach boy im Gepäck hatten, der aus einem Waisenhaus in Pasadena oder San Jose stammte. Vielleicht hatten sie ihn mit nach Hause genommen, ihn mit seiner neuen Umgebung vertraut gemacht und zwei Monate später, Eds Geburtstag war der 15. Juli, aber das musste nichts heißen, weil inzwischen nichts mehr als sicher gelten konnte, hatte sein Adoptivvater seine Geburtsurkunde gefälscht. War es so gewesen? Wenn ja, bedeutete dies, dass er sämtliche Waisenhäuser entlang der Westküste um Auskunft bitten müsste. Entmutigt von der Vorstellung, wie viel Geduld dies kosten würde, blätterte Ed weiter zum 15. Juli. Vielleicht war er doch nicht adoptiert und im Kalender fand sich der Eintrag: ED GEBOREN! Aber unter dem 15. Juli stand nichts dergleichen. Stattdessen waren drei Tage hintereinander, vom 12. bis zum 14., mit »PORT« markiert. Nach dem Beispiel von CAL konnte PORT eigentlich nur Portland, Oregon, heißen. Oder Portugal, aber Dan wäre niemals für drei Tage nach Portugal gereist. Oder stand das Kürzel für eine medizinische Tagung? Ed rief Cybil an und ließ es überprüfen. Nach einer längeren Wartezeit gab sie als Ergebnis durch: »Kurzform für Portkatheter, wie in intravenöser Port, Chemo-Port, subkutaner Port, Portkanüle«, bis Ed sie entnervt unterbrach.
    Die Citation flog ruhig in majestätischer Höhe, aller Turbulenzen und Wetterkapriolen enthoben. Ed öffnete eine zweite Kiste mit Erinnerungsstücken und zog einen Aufsatz über »Spontane Rückbildung bei alveolären Weichteilsarkomen« hervor, den Dan aufbewahrt hatte. Außerdem fand er das Programm für ein Pferderennen von 1965, die Speisekarte eines Restaurants in Waikiki und einen Ordner mit chronologisch geordneten Geburtstagskarten von Alice, die Ed erst einmalbeiseitelegte. Stattdessen stöberte er in Dans Kontoauszügen, die insgesamt zweiunddreißig Jahre umfassten. Sie waren an den Kanten vergilbt und abgestoßen, aber sauber hintereinander abgeheftet. Beim Durchblättern kam Ed eine Idee. Er sah unter 63 nach, und tatsächlich, am 12. und 13. Juli hatte Dan für ein Zimmer im Benson bezahlt. Am 12. hatte er eine Rechnung im Fish Grotto beglichen, der Höhe der Summe nach und unter Einbeziehung der Inflation für ein Essen zu zweit, inklusive einer guten Flasche Wein. Am 14. Juli hatte er an einer Esso-Tankstelle in Castle Rock zwischen Portland und Seattle getankt, und Alice, so stellte Ed sich vor, hatte vermutlich mürrisch die Windeln gewechselt. Am 15. war Dan wieder in der Praxis gewesen. War er vielleicht an diesem Tag in die Entbindungsstation gefahren und hatte die Geburtsurkunde gefälscht?
    In einer anderen Kiste waren noch mehr medizinische Aufsätze – »Ewing-Sarkom bei Kindern und Jugendlichen«, »Desmoid-Tumore und Polyposis Coli« –, ein Stapel Urlaubskarten von Freunden, Dans Entlassungspapiere aus der Army (er hatte den Zweiten Weltkrieg verpasst und war 1946 mit achtzehn Jahren Schreibkraft auf der Krankenstube in Fort Monmouth gewesen), eine Broschüre über die Transsibirische Eisenbahn, fünf Exemplare einer Ausgabe des Seattle -Magazins, in dem Dan zu den besten Hausärzten gezählt wurde, ein Ehrendiplom der Amerikanischen Gesellschaft für … Aber alles das interessierte nicht. Ed hob den Deckel von einer Kiste mit Schecknachweisen, alle fein säuberlich beschriftet, wie zum Beispiel: »Nr. 2234–2306« und »27. 9. 83 bis 1. 7. 84«. Die pingelige Ordnung ging sogar noch weiter, denn diese Auszüge waren noch einmal in Zehnerpäckchen gebündelt, von Gummis zusammengehalten und chronologisch abgeheftet worden.
    Ed sah sie durch. Den Auszügen nach waren seine Adoptiveltern bestenfalls sparsame Wohltäter gewesen und hatten immer nur bescheidene Summen von fünfundzwanzig Dollar oder weniger an Hillel, Hadassah, die Jüdische Kinder- und Familienfürsorge, die Amerikanische Bürgerrechtsunion und B’nai Brith gespendet. Dan hatte in seiner unleserlichen Handschrift die einzelnen Ausgaben für »Telefon«, »Strom«, »Versicherungen« oder »Kfz-Zulassung« sorgfältig untereinandergeschrieben, mit einem Datum versehen und entsprechend addiert oder subtrahiert. Interessant war ein Eintrag am

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