Ed King
Flug prasselte der Regen gegen ihr Cockpitfenster. Am Boden in Seattle wartete bereits Eds Hubschrauber. Ein Flugbegleiter mit aufgespanntem Regenschirm brachte ihn von einem Transportmittel zum anderen. »Nimm’s nicht so schwer, Kumpel«, rief Guido ihm hinterher. »Wir sehen uns! Bleiben Sie locker!« Ed ignorierte ihn und überflog mit dem Helikopter das Flutgebiet. Überall waren Nachrichten-, Polizei- und Rettungshubschrauber in der Luft. »Ich bin ein Findelkind«, dachte er immer wieder, »von den eigenen Eltern verstoßen. Irgendwer hat mich vor einer Haustür abgelegt und ist abgehauen. Das passiert nicht so häufig. Es gibt ungefähr sieben Milliarden Menschen auf diesem Planeten. Wie viele davon sind Findelkinder wie ich? Die Chance ist vermutlich nicht größer, als bei einem Flugzeugabsturz zu sterben. Nur dass ein Flugzeugabsturz ein Unfall ist, das hier aber nicht. Hier hat jemand eine Entscheidung getroffen und beschlossen, mich vor einer fremden Tür abzulegen. Wer hat das beschlossen? Höchstwahrscheinlich meine Mutter. Vielleicht weil sie ungewollt schwanger geworden war. Hat sie mich weggeben wollen? Vermutlich nicht. Sein eigenes Kind gibt man nicht so einfach weg. Wahrscheinlich war sie noch jung und wollte keine Mutter sein. Hatte andere Pläne für ihr Leben. War Abtreibung 1963 überhaupt gesetzlich erlaubt? Ein ziemlicher Schlamassel, schwanger zu werden und nicht weiterzuwissen. Aber fallen die Babys denn einfach so vom Himmel? Sie entstehen doch durch die Dummheit und Geilheit der Leute. Wie so viele andere Probleme auch. Ist also der Sex schuld? Oder die betreffende Person? Wann kann man sagen, dass jemand für etwas die Schuld trägt? Wer auch immer mich verstoßen hat, war nicht bloß ein Opfer der Umstände und zumindest mitverantwortlich für seine Tat, und deshalb habe ich das Recht, wütend auf ihn zu sein. Das Problem mit der Wut ist nur, dass die andere Seite damit zweimal gewinnt, einmal, weil sie mich ausgesetzt hat, und ein zweites Mal, weil ich nichts anderes machen kann, als wütend zu sein. O Gott! Kneif mich mal. Ich habe das Gefühl, das ist alles nur ein Traum. Aber es ist wahr. Ich bin ein Findelkind.«
Als er nach Hause kam, saß Diane in ihrem Fernsehsessel und verfolgte die Nachrichten über die Flut, oder zumindest schien es so, als verfolgte sie die Nachrichten. In der einen Hand hatte sie ein Glas Wein und in der anderen die Fernbedienung. Ed küsste sie flüchtig auf die Wange und setzte sich neben sie. Dianes Stylist hatte ihr erst kürzlich die Haare grellrot gefärbt, in einem Ton, der gar nicht erst natürlich wirken wollte. Ihr Haar leuchtete wie das von Königin Elisabeth I., mit flammenden, orangeroten Locken, die eigentlich versteckt gehörten. Es hatte einige Beschwerden von Moralaposteln gegeben, für die die roten Haare ein Zeichen von Eitelkeit waren, »die einer Philanthropin mit weltweitem Einfluss schlecht ansteht«, wie es in einem Kommentar hieß, aber die meisten bewunderten Dianes Schönheit, die oft als »zeitlos« beschrieben wurde. Mit siebzig sah Diane aus wie fünfundvierzig, und im Web wurde sie unter den »älteren Frauen mit dem größten Sex-Appeal« geführt. Ed hatte kein Problem mit den roten Haaren. Sie gaben ihr ein »präraffaelitisches« Aussehen, wie ein anderer Autor es in Anlehnung an Dante Gabriel Rossettis Lilith beschrieb. Zwar hatte sie durch ihre Schönheitsoperationen einen herrischen Zug um die Lippen und ein strenges Kinn bekommen, aber darüber hinaus hatte sie nichts mit dem Rossetti-Gemälde gemeinsam, wie Diane und Ed einvernehmlich festgestellt hatten, weil ihre ganze Gestalt weit weniger üppig und ihr Gesichtsausdruck nicht so gequält und gedankenverloren war. Während Rossettis Lilith einen selbstsüchtigen Eindruck machte, wirkte Diane auf Ed vor allen Dingen lebenslustig – lebenslustig, mitfühlend, schlagfertig, zupackend, klug, temperamentvoll und charmant; das waren die Adjektive, die in den zahllosen Kurzporträts seiner Frau am häufigsten genannt wurden.
Aber jetzt traf keines davon zu. Jetzt wirkte sie, als hätte sie etwas zu verbergen. Sie wich seinem Blick aus und versteckte sich hinter ihren Haaren wie hinter einem Schild. Ed ließ sich in den zweiten Sessel sinken und sagte: »Du klangst am Telefon so bedrückt.« Er streckte seine Hand nach ihr aus, aber sie nahm sie nicht.
Stattdessen hielt sie weiter das Weinglas in der einen und die Fernbedienung in der anderen Hand. »Nein«, sagte
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