Ed King
nicht viel von Adoption; es gab nicht viele freie Plätze im auserwählten Volk, und Leute von außen wurden nur ungern hinzugebeten. Ed spann den Gedanken weiter, bis er sich ins genaue Gegenteil verkehrte: Dan und Alice, reformierte, moderne Juden, hatten den orthodoxen Juden stets ihre Kompromisslosigkeit, Aufdringlichkeit und Peinlichkeit vorgehalten, und ein Kind zu adoptieren mochte ihre heimliche Rache an den Juden mit Bart und Perücke gewesen sein, den Chassidim und Jidden, sowie ihre unverhohlene Rache an ihren Eltern.
Ed verstand, wie alles zusammenhing: die Selbstlosigkeit, die Konflikte mit den Eltern, die verminderte Zeugungsfähigkeit, die Kämpfe zwischen den einzelnen Glaubensfraktionen und die Repressionen in der Zeit vor der Gegenkultur, alles dies musste ins Dans und Alice’ Ohren geradezu nach Adoption geschrien haben. Sich weiter durch die Seiten klickend, stellte er sich vor, wie der Arzt und seine Frau sich gemeinsam quälenden Fragen zu Moral, Gesellschaft, Religion undPolitik stellten und zu dem Schluss kamen, unter den gegebenen Umständen sei Geheimhaltung das Beste für alle Beteiligten. Und dann erinnerte er sich an Pop vor dreißig Jahren im L’Chaim-Heim, schon halb meschugge und dazu verurteilt, in geistiger Umnachtung zu sterben. Er hatte behauptet, einer der King-Söhne sei adoptiert, was Ed damals bloß für wirres Gerede gehalten hatte, genauso wie Pop nicht begriffen hatte, dass er sein Leben im L’Chaim-Heim beschließen würde. Wie konnte er nur so dumm sein, nicht hinzuhören? Die Wahrheit hatte offen vor ihm gelegen! Pop hatte gewusst: Ed war adoptiert. Er war in das Geheimnis eingeweiht und hatte es für sich behalten, bis er es nicht mehr konnte.
Ed kochte innerlich. Dann informierte er sich über die jüngsten Wetterdaten. Pioneer Square stand unter Wasser, die Docks auf Harbor Island waren geschlossen, Interbay und das gesamte aufgeschüttete Gebiet, auf dem sich Seattles Industriegebiet befand, waren überflutet. Mitten im Sommer schien Seattle abzusaufen. Andererseits handelte es sich um ein physikalisches Problem, und physikalische Probleme ließen sich immer beheben. Nur wenn man etwas vermasselt hatte, ließ es sich nicht mehr wiedergutmachen, und Dan und Alice hatten es gründlich vermasselt. Der aufgeklärte Dan, die aufgeklärte Alice, die so fürsorglichen, großherzigen und liebevollen Menschen Dan und Alice. Sie hatten Ed geknuddelt, verhätschelt und verwöhnt, aber sie hatten ihm die entscheidende Wahrheit vorenthalten. Sie hatten geduldig die Jahre ertragen, in denen er mit seinem Muskelschlitten die Straßen unsicher gemacht hatte, hatten ihn geküsst und gedrückt, hatten für seine Ausbildung gezahlt, hatten ihn angefeuert, ihn gelobt und ihn aufs Podest gehoben – aber, nein, die Wahrheit über seine leiblichen Eltern wollten sie ihm nicht sagen. Und passte es nicht auch zu Dan und Alice, sich um das körperliche Wohlbefinden zu sorgen und zugleich die These zu vertreten, wüsste man erst, dass man adoptiert war, würde man garantiert auf der Couch eines Psychiaters enden? Genau, so waren sie. Neurotisch.
Der nächste Schritt lag auf der Hand: Er musste die allwissende Cybil fragen. Sie würde sich nach dem von ihm programmierten Algorithmus durch das Netz wühlen und in dem riesigen Berg an Informationen die Antwort aufspüren. Ed klickte die entsprechende Funktion an und sagte: »Cybil.«
»Guten Tag, Ed.«
»Spar dir die Floskeln«, sagte Ed, »und suche nach meinen leiblichen Eltern.«
Pause. Dann: »Ich habe die Suche durchgeführt, aber ich kann Ihre leiblichen Eltern nicht finden. Es tut mir leid, Ed. Ich wünschte, ich könnte Ihnen helfen.«
Nun gut, dann eben auf die altbewährte Prä-Cybil-Art, so wie er es in seinen wilden Jahren gemacht hätte und wie er es als Herrscher von Pythia stets gemacht hatte. Schön und gut, Cybil kam nicht weiter, aber Ed wusste, irgendwo musste die Antwort auf ihn warten, weil Adoptionen registriert wurden. In diesem Moment existierte irgendwo auf der Welt ein von Dan und Alice unterschriebenes Dokument, das die Antwort auf seine Frage enthielt.
Wieder stellte er sich Dan und Alice im Jahr 1963 vor, wie sie gemeinsam überlegten, was sie mit der Adoptionsurkunde machen sollten. Sollten sie sie in einem Schließfach deponieren, auf dem Dachboden verstecken, im Garten vergraben, in Dans Büro verwahren oder … Keine Frage, Dan und Alice hatten endlos über verschiedene Möglichkeiten diskutiert,
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