Ed King
komme sich vor wie ein Bed-and-Breakfast, fügte aber hinzu, dass sie es gerne mache, weil sie beide Kinder so sehrliebe. Meistens jedoch waren Walter und Lydia unter sich, lasen, aßen, gingen laufen, stritten sich und kamen den lästigen Arbeiten am Haus nach, bevor sie sich auf lange, ereignislose Abende einstellten. Die ganze Zeit über redete Lydia von den Kindern, von ihren Stärken, Schwächen, Herausforderungen, Charakterzügen und Heiratschancen, von ihrer Arbeit, Aufstiegs- und Weiterbildungsmöglichkeiten und von den Aussichten, Enkel zu bekommen, die sie mit dem Auto besuchen könnten. Im Grunde hätten sie genauso gut anwesend sein können. Walter sagte nichts, um Lydia zum Weiterreden zu ermuntern, da ihn das Thema ermüdete und er nach vorne schauen wollte, aber auch er musste immer an die Kinder denken, wenn er aufs Wasser hinausblickte. Es kam ihm so vor, als sei in den ersten Jahren alles normal gewesen, abgesehen von den alltäglichen Problemen, den Wutanfällen, kleinen Missetaten, dem gelegentlichen Schreien, Brüllen und Lügen oder fehlenden Respekt, aber alles nichts Ernstes oder Außergewöhnliches, nichts, was besonderer Aufmerksamkeit bedurft hätte. Dann aber, als Barry vierzehn und Tina dreizehn war, stand Walter plötzlich als Ehebrecher da, und danach hatte sich alles verändert.
Gab es da eine Verbindung? Lydia war sich dessen sicher. Walter, durch seinen Beruf daran gewöhnt, Fakten zu manipulieren, hielt sich den anderen gegenüber in der Frage nach seiner Schuld zurück, gab aber insgeheim Lydia recht. Konnte es denn Zufall sein, dass sein Sohn sich gleich nach seinem aufgedeckten Fehltritt so dramatisch verändert hatte? Nach Erfolgen als Werfer in der Baseball-Jugendliga und durchweg guten Schulnoten hatte Barry sich plötzlich in sein Zimmer verkrochen. Er spielte mit Begeisterung Dungeons and Dragons, sammelte Fantasy-Figuren aus Zinn und fing an zu kiffen. Tatsächlich stellte sich schon bald heraus, dass er nicht nur hin und wieder einen durchzog, sondern täglich kiffte und, was noch weit beunruhigender war, zu den Jugendlichen gehörte, die wegen Depressionen in therapeutische Behandlung gehörten. All das wäre noch gegangen, wenn Barry nach seinem Abschluss, den er mit Ach und Krach schaffte, wieder Boden unter die Füße bekommen hätte. Stattdessen sah er sich endlos Star Wars -Filme auf einem Betamax-Recorder an, wurde einFan von Punk und New Wave und ging jeden Samstag zur Mitternachtsvorführung der Rocky Horror Picture Show ins Neptun Theatre. An der Wand über Barrys Schreibtisch hing ein Poster von Devo – vier Typen in gelben Strahlenschutzanzügen mit schwarzen Peitschen und eckigen Plastikhüten, sogenannten »energy domes« – sowie eins von den Sex Pistols. Selbst das hätte man noch als halbwegs normal durchgehen lassen können, soweit es Walter betraf, wenn Barry nicht so dünn geworden wäre wie sein Vorbild Sid Vicious und wenn er sich nicht ein Outfit zugelegt hätte, bei dem Walter unwillkürlich an Die Nacht der lebenden Toten denken musste und das aussah, als sei er frisch dem Grab entstiegen.
Dann war da Tina, blond, pausbäckig, engelsgleich und ernst. Sie hatte begonnen, Tagebuch zu schreiben, nachdem Andeutungen von Walters Debakel zu ihr durchgesickert waren. Nach und nach hatten sich ihre Interessen vom Verkauf von Girl Scout Cookies auf die Herausgabe des Literaturmagazins ihrer Highschool verlagert. Das bedeutete, dass einmal in der Woche eine schnatternde Horde künstlerisch angehauchter Mädchen bei den Cousins einfiel und hinter der Tür zu Tinas Zimmer lange Diskussionen über die Aufnahme einzelner Gedichte führte. Manchmal belauschte Walter sie in der Küche, wo sie Oreo-Kekse futterten und sämtliche 7-Up-Flaschen im Haus leerten, um sich gleichzeitig beispielsweise über Lydias Milchgläser lustig zu machen, weil darauf Kühe abgebildet waren. Tina gab nicht nur Gedichte heraus, sondern schrieb auch welche. Sie schrieb Gedichte über Massenselbstmord, die Roten Khmer und korrupte Waffenlieferanten. Die für besondere studentische Leistungen und die Nacht der jungen Künstler zuständige Lehrerin mochte ihre Gedichte und stellte sie in der Bibliothek neben Fotografien und Gemälden ihrer Mitschüler aus. Tina schrieb auch viele Gedichte zum Thema Liebe, in denen sie, wie Walter wusste, auf persönliche Erfahrungen aus jungen Jahren zurückgriff, als sie jeden Monat eine andere beste Freundin hatte. Oft beschrieb sie darin
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