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Ed King

Ed King

Titel: Ed King Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: David Guterson
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hingerissen ihre neue Freundin oder betrauerte ihre verflossene Freundin oder beides. Doch egal, ob sie nun in Entzücken oder Trauer schwelgte, immer schien Tina die gleichen Platten zu hören, etwa The Concert for Bangladesh oder eine Aufnahme, die für Walters Ohren klang wie summende Mönche in einem Wasserspeicher. Hatte sie vor Walters unvorstellbarer Missetat naiv behauptet, die Wissenschaft erkläre alles, war sie nachher eher geneigt zu sagen, sie sei lediglich eine andere Form des Glaubens.
    1975 schenkte sie Walter zu seinem siebenundvierzigsten Geburtstag eine LP aus dem Secondhandshop mit dem Titel The Kinks Are the Village Green Preservation Society . Auf die Hülle hatte sie mit Filzstift einen Pfeil gemalt, der auf das Stück Do You Remember Walter? zeigte, und danebengeschrieben: »Für dich!« Walter nippte an seinem Geburtstagsmartini, kratzte sich am Kopf und sagte: »Aha, für mich.« Dann legte Tina Do You Remember Walter? auf und sah ihn lächelnd an. Gemeinsam lauschten sie dem Gesang, der mit den Zeilen begann:
    Walter, erinnerst du dich noch, als die Welt jung war
    Und alle Mädchen Walters Namen kannten?
    Walter, ist es nicht traurig, wie unsere kleine Welt sich verändert hat?
    Und am Schluss hieß es:
    Es stimmt, die Menschen ändern sich, aber die Erinnerung bleibt bestehen.
    Als das Stück zu Ende war, sagte Tina: »Es trifft nicht ganz auf dich zu, aber der Name stimmt, und es geht um jemanden, der drüber weg ist, wie du, und da dachte ich, du würdest es mögen.«
    »Ähm, wie bitte?«
    »Also, das ist mein Geburtstagsgeschenk.«
    Walter hätte nichts dagegen gehabt, dass seine Tochter eine Dichterin geworden war, die einen Alpakaschal aus einem Secondhandshop um den Hals trug und mit bleichen Barden Kefirmilch im Sunlight Café trank, wenn einige ihrer Gedichte nicht so unverhüllt ihre Verachtung für ihn gezeigt hätten. Tina hatte einige Verse über einen Typen in Bermudashorts geschrieben, der menschliche Gliedmaßen auf dem Grill briet und dabei eine Zigarre rauchte. Ihr Gnadenstoß jedochwar eine lange, beinahe epische Abrechnung mit dem Titel Walter, die Anspielungen auf Richard Cory, Walter Mitty, Willy Loman, Casanova und Nixon enthielt. Danach war er als Thema für Tina gestorben.
    Zu schade auch, dachte er bei sich. Denn genau in dem Moment hätte er ein dankbarer Gegenstand für dichterische Satire sein können. Mit starrem Blick auf die magische Zahl 50 empfand er in alle Richtungen Bedauern. Er wollte nicht mehr Versicherungsstatistiker sein und wusste nicht einmal zu sagen, warum er es überhaupt war. Welchen Sinn hatten all diese Statistiken? Keinen großen jedenfalls, so viel stand fest. Schaubilder, Diagramme, Tabellen, Analysen – was für eine gigantische, ungeheuerliche Zeitverschwendung seine Berechnungen doch waren, mit denen er sich um sein Leben gebracht hatte. Gedichte zu schreiben schien dagegen ein weit größerer Spaß. Wenn sie einem die Möglichkeit gab, seine Emotionen zum Ausdruck zu bringen, war Lyrik vielleicht wirklich etwas wert. Nur wo fing man an? Gedichte flogen einem nicht einfach zu. Und inzwischen war er, ohne dass er sich darum gekümmert hätte – jedenfalls nicht so, wie er sich darum hätte kümmern sollen –, zum stellvertretenden Direktor der Forschungsabteilung bei Piersall-Crane aufgestiegen. »Stellvertretender Direktor der Forschungsabteilung«, sagte er zu Tina. »Darüber sollte mal jemand ein Gedicht schreiben.« Es war natürlich nur ein Scherz, obwohl er nichts dagegen gehabt hätte. Besser als nichts, ein Gedicht über ihn. Deshalb war er froh, als Tina sagte: »Also gut, ein Gedicht. Womit genau verdienst du dein Geld?«
    »Mit Zahlenspielen. Das weißt du doch.«
    »Ich habe mir unter ›Zahlenspielen‹ nie etwas Konkretes vorstellen können. Kannst du es mir nicht genauer erklären?«
    Walter versuchte ihr zu erklären, was Rückstellungen für laufende Risiken sind und was zum Lehrgang »Finanzanalyse in Versicherungsunternehmen« gehört, indem er alle wichtigen Aspekte systematisch durchging, aber kaum hatte er einen Satz gesagt, wollte sie sofort wissen, was »Verbindlichkeiten« seien. »Sagen wir es so«, setzte er an, um zum Kern der Sache zu kommen. »Leute aus der Wirtschaft wollen verlässliche Informationen über die Vergangenheit und die Gegenwart, damit sie Vorhersagen für die Zukunft treffen können.«
    »Warum?«, fragte Tina. »Warum leben sie nicht einfach?«
    Walter fügte sich der Verlagerung

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