Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Ed King

Ed King

Titel: Ed King Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: David Guterson
Vom Netzwerk:
Katz, und jetzt fuhr er niedergeschlagen und mutlos zurück zu Lydia, ihre Keksdose wie ein Vorwurf neben sich auf dem Beifahrersitz. Was sollte er dazu sagen, warum er die Erdnussbutterkekse nicht übergeben hatte, obwohl sie ihn mehrmals daranerinnert hatte? Warum musste er es überhaupt mehrmals gesagt bekommen? Und apropos, warum Lydias Geistlosigkeit, Herablassung, Gefühlsseligkeit und moralische Überlegenheit? Warum ihr ständiges Manipulieren? Warum die Schuldgefühle und sklavische Unterwerfung? Warum ließ sie nicht einen Augenblick locker? Warum behandelte sie ihn, als müsste er eine lebenslängliche Strafe absitzen? Was hatte sie davon, ihn ständig klein zu halten? Natürlich wusste Walter die Antwort. Sie lautete, wie Barry es vielleicht ausgedrückt hätte, dass er ein beschissener Versager war.
    »Habe ich jemals etwas richtig gemacht?«, dachte Walter. »Mein Sohn verachtet mich, meine Tochter hasst mich, meine Frau misstraut mir, und im Büro halten mich vermutlich alle für einen Vollidioten. Und obendrein bin ich auch noch ein notorischer Fremdgeher. Ich bin ein Dreckskerl, der mit der besten Freundin seiner Frau ins Bett gestiegen ist. Ich bin ein unverbesserlicher, mieser Lügner. Ich habe mich von einem gottverdammten Teenager auf fünfhundert Dollar im Monat erpressen lassen und werde seit … seit mehr als sechzehn Jahren bis aufs Blut ausgequetscht. Das sind, wie viel, hunderttausend Dollar? Mein Gott, was denn noch? Geht’s noch tiefer runter? Aber ja, nicht zu vergessen, ich hatte Geschlechtsverkehr mit einer Minderjährigen. Ich habe ein uneheliches Kind gezeugt, von dem ich nicht das Leiseste weiß. Das ist die wahre Geschichte meines Lebens.«
    Eine fette Ratte huschte vor ihm über die Straße. Während er noch überlegte, ob er Gas geben und sie überfahren oder bremsen sollte, war sie auch schon im Weizen verschwunden. Hin und wieder sah er Tauben auf den Telefonleitungen, die reglos in der Hitze hockten und aussahen wie Glasisolatoren. Ansonsten schien es hier kein Leben zu geben, vor allem keine Menschen, und je tiefer Walter in diese öde, einsame Landschaft hineinfuhr, desto verlassener kam sie ihm vor und desto stärker empfand er sie als eine letzte Oase des Friedens, bevor Lydias Hammer auf ihn niederging.
    »Ich sollte mich zurücklehnen und die Fahrt genießen«, dachte er. »Ich sollte dankbar für die Fahrt durch diese friedvolle Landschaft sein, meine Freiheit auskosten und alles andere vergessen, weil es im Augenblick nicht zählt.«
    Hinter einer Kurve ging er auf fünfzig Stundenkilometer runter, weil vor ihm mitten auf der Straße ein Wagen neben einer Scheune stand. Vielleicht hatte der Fahrer eine Panne, dachte er, oder es war ein Landschaftsfotograf, der angehalten hatte, weil ihn die Scheune interessierte. So oder so war es nachvollziehbar, dass ein Fahrer in dieser gottverlassenen Gegend mitten auf der Straße stehen blieb, ohne sich um andere Fahrzeuge zu kümmern. Walter sah eine Gestalt bei einem Baum stehen und wollte schon anstandslos vorbeifahren, kein Aufhebens um die Sache machen, als er sah, dass es ein junger Spund war, der sich am Straßenrand erleichterte. Was glaubte der kleine Scheißkerl, wer er war, einfach so die Straße zu blockieren, wenn andere, wie zum Beispiel Walter, vorbei wollten, das Recht hatten, vorbeizufahren, und die Straße versperrt fanden? Wie konnte man bloß so dämlich sein? Hatte der Knabe keinen Verstand?
    »Arschloch!«, dachte Walter, während er aufs Gas trat und gleichzeitig auf die Hupe drückte, mit derselben Gereiztheit, die er empfunden hatte, als er endlos das Telefon in Barrys Wohnheim hatte klingeln lassen. Wütend streckte er dem Jugendlichen den Mittelfinger entgegen. Bisher hatte er sich bei Konflikten mit anderen Fahrern allenfalls geärgert, aber diesmal packte ihn der blanke Hass. Er war außer sich, zu allem fähig. Blind vor Wut brüllte er: »Fick dich!«, und trat durch. Im Vorbeifahren bemerkte er, dass der Wagen Rennstreifen hatte und dass ein Mädchen in Lederjacke vom Beifahrersitz zu ihm herübersah. Die jähe Beschleunigung gab ihm das Gefühl von Freiheit, und sein herausfordernder Auftritt erfüllte ihn mit dem Triumph des Siegers.
    Aber er hatte sich zu früh gefreut. Der Jugendliche zeigte ihm ebenfalls den Finger, zwei Finger sogar, rannte zum Wagen und sprang hinein. »O nein«, dachte Walter. »Schon wieder ein Fehler.« Ängstlich beobachtete er im Rückspiegel, wie der Wagen sich

Weitere Kostenlose Bücher