Ed King
Aussehen. Sie wusste auch, dass er keine Ahnung davon hatte, wie viel Anstrengung damit verbunden war, wie viel Angst und Zweifel. An einem Tag, gleich nachdem er aus dem Haus gegangen war, zog sie sich aus und stellte sich nackt vor einen großen Spiegel, ohne die Schultern durchzudrücken, den Bauch einzuziehen oder das Licht zu dimmen. Der Anblick war schockierend. Besonders ihr Profil war furchterregend, weil deutlich zu sehen war, wie alles durchhing und wie ihre Haut Falten und Grübchen bekam. Sich im Spiegel musternd, hasste Diane sich dafür, dass sie sich hasste, denn hässlich zu sein war eine Sache, darauf fixiert zu sein eine andere. Von wem stammte der Satz, welche Spuren und Verwüstungen das Alter auch immer hinterlasse, die innere Schönheit bleibe davon unberührt? Mahatma Gandhi? Mutter Teresa? Wer auch immer es war, Diane glaubte nicht daran,weil der Fehler in dieser Theorie offensichtlich war. Mehr Sinn machte der Ausspruch, von wem auch immer er stammte, dass es ein trübsinniger Anblick sei, dem eigenen Verfall zuzuschauen.
Jim, andererseits, schien mit vierunddreißig kein Problem damit zu haben, in der Badehose einen mittelmäßigen Eindruck zu hinterlassen, als wären Hüftspeck und Hängebauch, ein Pelz auf dem Rücken, schmächtige Schultern, dürre Beine und eine schlaffe Brust nichts, für das man sich zu schämen brauchte. Diane konnte erkennen, dass Jim das Schicksal der Männer in der Familie nicht erspart bleiben würde, nämlich schmale Lippen, eine hohe Stirn und einen unansehnlich gewölbten Bauch zu bekommen; bei Jim würden sich diese Merkmale im Alter ausprägen, und die ersten Anzeichen waren schon jetzt zu sehen. Egal was für Anstrengungen er im Fitnessclub oder auf dem Platz unternahm, er würde das erschlaffte Äußere seiner angelsächsischen Vorfahren annehmen. Früher oder später hätte er wie sein Vater keinen Hintern mehr in der Hose. Es würde so aussehen, als wäre er ganz einfach verschrumpelt. Die älteren Brüder waren schon jetzt jüngere Versionen ihres angeschlagenen Vaters, dessen Knie offenbar höllisch schmerzten, wenn er einen Hang auf Skiern hinunterfuhr oder auf dem Tennisplatz stand. Dennoch alterte Jim auf eine Weise, von der Diane wusste, dass es die richtige war – er ließ einfach von der Vorstellung ab, vollkommen sein zu müssen, und es störte ihn nicht, wenn andere Männer am Strand oder am Swimmingpool, egal ob jünger oder älter, besser als er aussahen. »Ich kann mich entweder darüber ärgern oder es hinnehmen«, sagte er zu Diane. »Ich spiele Golf, versuche mich gesund zu ernähren, mache Gewichtstraining und spiele Tennis«, fuhr er fort. »Ich arbeite daran, die Perspektiven für mein Leben bescheiden zu halten, und wenn ich das Glück habe und eines Tages Kinder bekommen sollte, bin ich der glücklichste Mensch auf der Welt.«
Diane nahm die Pille, ohne dass ihr Mann es wusste. Aus ihrer Sicht war es für beide der angenehmste Weg, etwas zu umgehen, womit sie sich nicht auseinandersetzen wollte, nämlich mit der Tatsache, dass sie keine Kinder wollte. Zugleich machte Diane, nachdem sie dreißig geworden war, die Pille für die zusätzlichen Pfunde verantwortlich, mit denen sie zu kämpfen hatte. Ihr Hintern wurde breiter. Ihre Oberschenkel wurden dicker. Es war Zeit, entschiedenere Maßnahmen zu ergreifen. Diane begann Jims Bauchmuskeltrainer und das Laufband im Keller zu benutzen. Sie ließ sich nur widerwillig dazu herab, aber die Tatsachen im Spiegel waren nicht zu leugnen.
Die sportlichen Übungen taten nicht nur weh, sondern sie hatten noch einen weiteren Nachteil: Nach zehn Minuten Bauchmuskeltraining und zwanzig Minuten auf dem Laufband hatte Diane Hunger auf ein Sandwich und Doritos. Sie begann in einem Naturkostladen einzukaufen, damit, wenn sie der Heißhunger überfiel, etwas in greifbarer Nähe war, das nicht gleich auf die Hüften ging. Sechs Monate lang hielt sie – mehr oder weniger – ihre Linie, allerdings nur, weil sie ihre Anstrengungen verstärkte und sich gegen ihre Neigung stemmte, die Übungen schleifen zu lassen. Danach führte kein Weg daran vorbei, Jims Fitnessclub beizutreten und montags, mittwochs und freitags einen einstündigen Aerobic-Kurs bei ohrenbetäubendem Lärm über sich ergehen zu lassen.
Der ausbleibende Nachwuchs ärgerte Jim, der sagte, er sei immer davon ausgegangen, in seinem Alter mindestens zwei oder drei Kinder zu haben. Als seine Geduld mit Gott und dem Schicksal zu Ende war,
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