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Ed King

Ed King

Titel: Ed King Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: David Guterson
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näherte, und noch ängstlicher wurde er, als er auf seine Stoßstange auffuhr. In Panik ließ Walter sein Seitenfenster herunter und signalisierte mit der Hand, dass er sich geschlagen gab, aber der Fahrer rammte seine Stoßstange nur noch heftiger. Er hatte keine Chance, ihn abzuschütteln, weil der Wagen frisiert war. Auf einer geraden Strecke schob sich der Jugendliche direkt neben ihn, damit seine Freundin Walter beide Stinkefinger zeigen konnte. Walter erwischte einen kurzen Blick auf das Gesicht seines Widersachers, das Gesicht eines rasenden, entschlossenen jungen Kriegers, und der letzte Rest Mut und Zorn verließ ihn. In Todesangst ergab er sich in seine Niederlage. Zitternd trat er auf die Bremse, um sein Einlenken anzuzeigen, aber im selben Moment drängte der Jugendliche ihn von der Straße ab in ein Weizenfeld. Armer Walter. Die Welt drehte sich. Von seinem Sicherheitsgurt gehalten, stieß er mit dem Kopf gegen das Wagendach. Den ersten von vier Überschlägen überlebte er starr vor Entsetzen, aber als das Dach das zweite Mal auf dem Boden aufschlug, sackte es ein und brach ihm das Genick.

5
    Mrs Long
    Jim Long war diszipliniert und trank nicht übermäßig, ganz im Gegensatz zu seinen Brüdern. Wenn er abends aus dem Büro bei Long Alpine nach Hause kam, fragte er Diane nach ihrem Tag, ließ sich von ihr alles berichten, stellte noch ein paar weitere Fragen, machte ihr einen Cocktail, wenn ihr danach war, und drückte ihr von hinten einen Kuss neben das Ohr, wenn sie in der Küche oder im Badezimmer am Waschbecken stand. Sie mochte Jim zu Anfang, weil er sie, trotz seiner konservativen Lebenseinstellung, wie eine Prinzessin behandelte. Jim war ihr Held, der sie vor der Engstirnigkeit und den Launen seines Clans versnobter Skibarone in Schutz nahm und ihr buchstäblich die Füße küsste, weil er für Füße eine besondere Vorliebe hatte. Er begleitete sie zu Konzerten und ins Theater oder lud sie ein zu Prime-Rib-Steaks, Königskrabben oder Austern in der Schale. Wenn sie bei Benson, Heathman oder Seward aßen, spürte Diane ein leises Herzklopfen und fürchtete, als ehemalige Begleitung gutsituierter Hotelgäste erkannt zu werden. Andererseits hatte sie die blonde Barbie mit Pferdeschwanz hinter sich gelassen und sich, inzwischen beinahe dreißig, auf präventive Pflege verlegt. Präventive Pflege hieß, dass niemand bemerken würde, dass sie nicht mehr vollkommen war, wenn sie nur genügend Zeit und Geld in ihr äußeres Erscheinungsbild investierte. Warum ihr dies so viel bedeutete, war eine Frage, der Diane auf selbstquälerische Weise nachging. Sie fragte sich, ob sie neurotisch oder normal sei, eine krankhafte Narzisstin oder eine durchschnittliche Frau, die sich nicht mehr als andere auch um die Spuren des Alters sorgte. Manchmal kam sie sich vor wie das Opfer des Chauvinismus, jemand,der sich aufgrund von unkontrollierbaren Mächten durch und durch verdinglicht hatte. Dann wieder spürte sie eine pulsierende Kraft in sich, weil sie nach wie vor insgesamt blendend aussah und Männer nach Belieben um den Finger wickeln konnte. Blendend auszusehen war ein faszinierendes Spiel – ohne dies wäre das Leben womöglich langweilig. Das einzige Problem war, dass blendend auszusehen mit den Jahren immer schwerer wurde. Kleine Änderungen am Make-up, der Frisur und der Garderobe waren allmählich immer mehr Arbeit statt bloßer Zeitvertreib, erforderten ein immer größeres Geschick, während das Fenster für zufriedenstellende Resultate sich schloss; und kosteten nicht nur zu viel Zeit, sondern auch zu viele Emotionen. An jedem beliebigen Tag konnte Diane für ihre Arbeit vor dem Spiegel durch Himmel oder Hölle gehen. Nach außen war sie eine intelligente Frau, die anspruchsvolle Bücher las und sich für gesellschaftliche Themen interessierte, während sie insgeheim bloß ein oberflächliches Spatzenhirn besaß und sich darum sorgte, ob die gründlich missratene Frisur an diesem Tag nur der Vorbote für Tausende weiterer solcher Tage war. Anstatt darüber nachzudenken, was sie aus ihrem Leben machen wollte, wo sie hinwollte oder warum sie hier war, machte Diane sich Gedanken über ihr Aussehen. Es war ein stundenlanger Monolog in ihrem Kopf, ihre Hauptbeschäftigung, die ihr gegenwärtiges Ich als makellos gepflegte Mrs Long mit Leben erfüllte.
    Mrs Longs Leben glich dauerhaften Ferien, unterbrochen von tatsächlichen Ferien. Ihre angeheiratete Verwandtschaft liebte Urlaube an exklusiven Zielen

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