Edelherb: Roman (German Edition)
ausgewiesen war. Dreizehn oder vierzehn Treppen, es war ein langer Weg nach oben, und Mr. Kiplings Herz war immer noch schwach. Meines hingegen war in einem hervorragenden Zustand, da ich in den Sommermonaten drei- bis viermal am Tag an Mrs. Cobrawicks anstrengenden Sportübungen teilgenommen hatte. Ich war sehnig und kräftig, so dass ich die Treppen hinaufspurten konnte. (Ist es übertrieben, wenn ich hinzufüge, dass mein Herz als Muskel zwar in einem hervorragenden Zustand war, dass mein Herz an sich allerdings schon bessere Zeiten gesehen hatte? Wahrscheinlich schon, aber so war es halt. Man urteile nicht zu hart über mich.)
Da ich meine Schlüssel und andere Wertsachen nicht in die Erziehungsanstalt mitgenommen hatte, musste ich an der Tür klingeln.
Imogen öffnete. »Anya, wir haben dich gar nicht hochkommen hören!« Sie schob den Kopf nach draußen in den Gang. »Wo sind Mr. Kipling und Mr. Green?«
Ich berichtete vom Zustand des Aufzugs.
»Oje. Das muss eben erst passiert sein. Vielleicht geht er bald wieder von selbst?«, sagte sie fröhlich.
Was hatte sich jemals von selbst repariert?
Imogen erklärte, dass Scarlet im Wohnzimmer auf mich wartete.
»Und Natty?«, fragte ich. Sie musste schon seit zwei Wochen aus dem Sommerlager für Hochbegabte zurück sein.
»Natty ist …«, zögerte Imogen.
»Ist irgendwas mit ihr?« Ich hörte, dass mein Herz laut pochte.
»Nein, alles in Ordnung. Sie übernachtet nur bei einer Freundin.« Imogen schüttelte den Kopf. »Wegen eines Schulprojekts, an dem sie arbeiten.«
Ich strengte mich sehr an zu verbergen, wie verletzt ich war. »Ist sie böse auf mich?«
Imogen schürzte die Lippen. »Ja, ein bisschen schon, glaube ich. Sie hat sich sehr aufgeregt, als sie erfuhr, dass du sie wegen Liberty angelogen hast.« Wieder schüttelte sie den Kopf. »Du weißt ja, wie Teenager sind.«
»Aber Natty ist doch kein …« Ich hielt inne. Ich hatte gerade sagen wollen, Natty sei kein Teenager, doch dann fiel mir ein, dass das nicht stimmte. Im Juli war sie dreizehn geworden. Noch etwas, das ich in meiner Haftzeit verpasst hatte.
Eine vertraute Stimme hallte durch den Flur. »Höre ich da die weltberühmte Anya Balanchine?«, rief Scarlet.
Sie kam herbeigelaufen und drückte mich an sich. Dann hielt sie mich eine Armeslänge auf Abstand und musterte mich. »Anya, wo ist deine Oberweite geblieben?«
Ich zuckte mit den Schultern. »Das liegt wahrscheinlich an dem sehr gehaltvollen Essen in Liberty.«
»Wenn ich dich in Liberty besucht habe, hattest du immer den dunkelblauen Overall an, aber in deiner alten Schuluniform fällt es viel mehr auf. Du siehst …«
»Schrecklich aus«, ergänzte ich.
»Nein!«, riefen Imogen und Scarlet wie aus einem Munde.
»Es ist nicht wie beim ersten Mal, als du in Liberty warst«, erklärte Scarlet. »Du siehst jetzt nicht krank aus. Du siehst bloß …« Ihr Blick wanderte unter die Decke. Aus dem ersten Kurs in Rechtsmedizin wusste ich noch, dass ein Zeuge, der so die Augen verdrehte, sich gerade etwas ausdachte. Meine allerbeste Freundin war im Begriff zu lügen. »Du siehst verändert aus«, sagte sie liebevoll und nahm meinen Arm. »Komm, wir gehen ins Wohnzimmer! Ich muss dich auf den neuesten Stand bringen, was alles passiert ist. Außerdem ist Gable da, ich hoffe, das stört dich nicht. Er wollte dich gerne sehen, und … ich bin jetzt mit ihm zusammen, Anya.«
Es störte mich schon, aber Scarlet war meine beste Freundin, daher hatte ich keine Chance.
Wir gingen ins Wohnzimmer, wo Gable am Fenster stand. Er stützte sich auf Krücken, ein Rollstuhl war nicht zu sehen. Auch sonst machte Scarlets Freund einen deutlich besseren Eindruck. Seine Gesichtsfarbe war zwar mehr als blass, fast weiß, aber er hatte dort, wo ihm Haut verpflanzt worden war, keine auffälligen Narben zurückbehalten. An den Händen trug er schwarze Lederhandschuhe, so dass ich nicht erkennen konnte, was aus seinen amputierten Fingern geworden war.
»Arsley, du kannst ja wieder gehen!« Ich gratulierte ihm.
Scarlet klatschte in die Hände. »Und ob«, sagte sie. »Ist das nicht super? Ich bin so stolz auf ihn!«
Unter einigen Schwierigkeiten arbeitete sich Gable auf mich zu. »Ja, ist das nicht wunderbar? Nach monatelanger Physiotherapie und mehreren aufwendigen Operationen bin ich endlich zu etwas in der Lage, das die meisten Zweijährigen deutlich besser können als ich. Bin ich nicht ein Wunder der modernen Medizin?«
Scarlet gab ihm
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