Edelherb: Roman (German Edition)
mitzubekommen, aber die Dealer von Balanchine sind mittlerweile ziemlich unzufrieden mit ihm.« Er sah mich an. »Mädchen, nimm’s nicht so schwer. Was solche Dinge angeht, ist das noch ein ziemlich glückliches Ende. Du hast die faulen Eier gefunden, sie zum Teufel gejagt, und alle leben noch.«
»Außer Leo.«
»Gott sei seiner Seele gnädig.« Fats bekreuzigte sich. »Ich sage dir, dein Vater wäre stolz auf dich. Er hat nichts von Gewalt gehalten.«
(Ich glaube, hier schnaubte ich verächtlich.)
»Manchmal konnte er nicht anders, aber es war für ihn wirklich immer nur das letzte Mittel.«
»Bloß weil Mickey fort ist, will ich noch lange nicht, dass Balanchine Chocolate untergeht. Ich möchte nicht, dass das Lebenswerk meines Vaters zerstört wird«, sagte ich. Ich wusste genau, dass Mickeys und Sophias Abreise die Firma noch instabiler gemacht hatte.
»Das Entscheidende ist jetzt, so schnell wie möglich eine neue Führung einzusetzen. Auf keinen Fall darf der Eindruck von Meinungsverschiedenheiten entstehen.«
»Fats, glaubst du wirklich, Balanchine Chocolate besser führen zu können als Mickey?«
»Das kann niemand mit Sicherheit sagen, Annie. Aber wenn du mich unterstützt, werde ich mein Bestes tun. Ich bin ehrlich, und ich kenne die Tücken des Schokoladenhandels besser als jeder andere.«
Das stimmte. Seit Jahren war Fats erfolgreicher Inhaber seines Mondscheincafés, er kannte alle Akteure. Jetzt wurde mir klar, dass Yuji Ono, Yuri und Mickey mir wohl nur hatten schmeicheln wollen, als sie vorschlugen, ich solle Balanchine Chocolate leiten. Da ich jung und ahnungslos war, hatten sie mich für ihre eigenen Zwecke einspannen wollen. Ich hatte mir schmeicheln lassen und am Ende wieder als die Dumme dagestanden. »Warum ist es dir überhaupt wichtig, dass ich dich unterstütze?«
»Du kennst dich im Schokoladengeschäft nicht aus, aber für das Fußvolk zählt deine Meinung. Sie erinnern sich an deinen Vater, sie haben dein Gesicht in den Nachrichten gesehen, daher wäre ich für deine Unterstützung dankbar.«
»Wenn ich dir helfe, was passiert dann mit mir?« Wahrscheinlich klang ich kindisch oder zumindest jugendlich-naiv.
Wir hatten gerade die Brooklyn Bridge überquert und fuhren nach Manhattan hinein. Fats legte mir die Hand auf die Schulter. »Sieh mal, Annie! Diese Stadt! Dort ist alles möglich.«
»Nicht für mich«, entgegnete ich. »Ich bin Anya Balanchine. Die Erstgeborene eines Schokoladenmafioso. Ich kann meinen Namen und meine Vorstrafen nicht leugnen.«
Fats fuhr sich über sein Ziegenbärtchen. »Ganz so schlimm ist es auch nicht. Mach die Schule fertig, Mädchen. Dann komm wieder zu mir. Ich besorge dir einen Job, wenn du dann noch einen willst. Du kannst die Grundlagen lernen. Vielleicht sogar herausfinden, was genau die da in Moskau anders machen als wir.«
In dem Moment musste ich von der Straßenbahn in den Bus umsteigen, der mich zurück nach Uptown brachte. Fats sagte, am nächsten Tag sei eine Besprechung im Pool, er würde sich wirklich freuen, wenn ich daran teilnähme.
»Ich weiß noch nicht, ob ich dich wirklich unterstützen möchte«, sagte ich.
»Ja, das verstehe ich. Ich sag dir mal, was du meiner Meinung nach tun solltest: Schlaf dich gründlich aus, und wenn du morgen früh aufwachst, fragst du dich, wie es wohl wäre, wenn du Balanchine Chocolate für immer los wärst. Dein Bruder ist tot, die Verantwortlichen dafür sind verschwunden. Wenn du mich morgen unterstützt, werde ich dafür sorgen, dass dir oder deiner Schwester nie wieder jemand Schwierigkeiten macht.«
Gegen zehn Uhr war ich wieder zu Hause. Daisy Gogol, Natty und Win warteten auf mich. Keiner zeigte sich erfreut, mich zu sehen.
»Wir sollten sie direkt zurück ins Krankenhaus bringen«, sagte Natty.
»Mir geht’s gut«, erwiderte ich und ließ mich auf die Couch fallen. »Kaputt, aber sonst gut.«
Daisy Gogol warf mir einen bösen Blick zu. »Ich hätte dich aufhalten können, aber ich wollte dir nicht weh tun. Ich bin es nicht gewöhnt, von den Menschen weggestoßen zu werden, die ich eigentlich schützen soll.«
Ich entschuldigte mich bei ihr.
»Im Krankenhaus sagte man uns, sie müsse beobachtet werden, damit sie auf keinen Fall einschläft.« Natty erhob sich von der Couch und verschränkte die Arme vor der Brust. »Ich würde sie ja beobachten, aber ich will sie nicht mehr sehen.«
»Ich mach das schon«, meldete sich Win, auch wenn er nicht gerade begeistert von der Aufgabe
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