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Edelherb: Roman (German Edition)

Edelherb: Roman (German Edition)

Titel: Edelherb: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gabrielle Zevin
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in Jesus Christus?« Nicht schwer.
Ja,
dachte ich,
natürlich tue ich das.
Dann fragte der Priester: »Bereut Ihr eure Sünden?« Das war schon schwieriger. Ich hatte eine lange Liste von Sünden, und die meisten hatte ich in vollem Bewusstsein begangen. Konnte ich zum Beispiel ehrlich behaupten, ich würde bereuen, jenem Mann die Hand abgeschlagen zu haben? Wenn ich das nicht getan hätte, wären Theo und ich jetzt tot. Doch ich war froh, am Leben zu sein. Und ich war auf jeden Fall froh, dass Theo noch lebte. Als wir gegen Ende des Gottesdienstes mehrmals wiederholten: »Ich glaube an ihn und vertraue auf ihn«, sprach ich mit, weil alle um mich herum beteten, aber ich konnte nicht ehrlich behaupten, dass ich so empfand. Ich hatte immer gebetet und war fromm gewesen, doch was hatte mir das gebracht? Leo war tot. Meine Eltern waren tot. Nana war tot. Ich würde keinen Schulabschluss machen. Ich war vorbestraft. Manchmal kam es mir vor, als sei mein ganzes Leben vom Zeitpunkt meiner Geburt an vorherbestimmt gewesen, und wenn das stimmte, warum sollte ich mich dann noch mit Religion, Beten oder Ähnlichem abgeben? Dann konnte ich genauso gut tun, was ich wollte. Samstags mit wem auch immer schlafen. Sonntags im Bett liegen bleiben.
    In dem Moment sah Natty mich an. »Ich hab dich lieb, Annie«, sagte sie. »Und ich bin so dankbar, dass ich dich habe. Sei nicht so verbittert.«
    Ich schüttelte den Kopf. »Ich hab dich auch lieb«, erwiderte ich. Das war ungefähr das Einzige, was ich wusste.
     
    Nach der Kirche ließen wir uns Zeit mit dem Heimweg. Der späte Märztag war feucht und grau, auch wenn matter Sonnenschein durch eine kleine Lücke in den Wolken fiel. Mir war warm in meinem Mantel, deshalb knöpfte ich ihn auf.
    »Ich möchte im Sommer gerne wieder ins Hochbegabten-Lager«, verkündete Natty, als wir ungefähr die Hälfte des Weges hinter uns gebracht hatten.
    »Gut. Dann solltest du hingehen.«
    »Aber du kommst mir so …« – sie suchte nach einem Wort – »abwesend vor, Anya, und wütend, und ich möchte dich nicht gerne alleine lassen.«
    »Natty!« War ich so etwas wie Leo für sie geworden? Jemand, auf den sie meinte aufpassen zu müssen? »Natty, ich habe Freunde. Und Hobbys. Folge deinem Ruf! Geh ins Sommerlager.«
    »Meinst du mit Hobbys irgendwelche Rachefeldzüge?«, fragte sie.
    »Nein!«
    »Hör zu, Annie«, sagte Natty sanft. »Leo ist tot. Und die Menschen, die das zu verantworten haben, sind fort. Win wird zum College gehen, und er ist der netteste Junge der Welt, aber du musst damit rechnen, dass er jemand anders kennenlernt. Scarlet bekommt bald das Kind, vielleicht heiratet sie sogar Gable Arsley. Du hast Mr. Kipling und Mr. Green gekündigt. Alles wird sich ändern, und du musst bereit sein für Neues.«
    Natürlich hatte meine kluge kleine Schwester recht. Aber was sollte ich tun? Ich wollte nicht mein gesamtes Leben auf der falschen Seite des Gesetzes verbringen – mit Aufenthalten in Liberty, bis ich zu alt dafür war, und dann mit Haftstrafen in Rikers, oder was auch immer die entsprechende Einrichtung für volljährige weibliche Gewohnheitsverbrecher war. Ich wollte nicht enden wie Jacks oder Daddy, weshalb ich mich einverstanden erklärt hatte, dass Fats die Leitung des Geschäfts übernahm. Dennoch gab es auch nichts anderes, wofür ich geeignet gewesen wäre. Ich wusste ein wenig über Schokolade und über das organisierte Verbrechen, außerdem hatte ich einen berüchtigten Nachnamen. Worauf lief das alles hinaus?
    »Also«, fuhr Natty fort, »wenn du willst, dass ich bleibe und dir im Sommer helfe, dann tue ich das …«
    »Natty, ich will, dass du fährst! Natürlich will ich das.«
    Sie sah mir in die Augen, dann nickte sie. »Vielleicht solltest du mal mit Dr. Lau sprechen?«
    Ich schüttelte den Kopf.
    »Sie fragt jedes Mal nach dir, wenn ich sie sehe.«
    Wieder schüttelte ich den Kopf. »Sie ist bloß höflich.«
    Mit dem Aufzug fuhren wir nach oben. Als wir unsere Etage erreichten, sahen wir, dass unsere Wohnungstür angelehnt war.
    Ich streckte den Arm aus. »Bleib hier!«, befahl ich Natty und holte die Machete unter meinem Mantel hervor.
    Sie bekam große Augen. »Sollen wir nicht lieber weglaufen?«, flüsterte sie.
    Ich war kein Mensch, der weglief. Ich wies sie an, um die Ecke im Flur zu warten, am Notausgang. »Wenn du mich schreien hörst, läufst du so schnell du kannst die Treppe hinunter. Lauf zu Win. Sprich mit keinem, bis du dort bist.«
    Natty

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