Edelherb: Roman (German Edition)
wiedergegeben hatte, seufzte Mr. Kipling, und Simon Green stand auf und schlug mit der Faust auf den Tisch.
»Das leuchtet deutlich mehr ein als die Bagatelldelikte. Ich habe mich schon gefragt, warum sie dich wegen Kaffee und Sperrstunde belästigen«, sagte Mr. Kipling. »Und, was hast du jetzt vor, Anya?«
»Ich denke, ich sollte New York verlassen«, sagte ich rundheraus, ohne vorher überlegt zu haben.
»Ganz bestimmt, Anya?«, fragte Simon Green.
»Ich kann nicht hier drinbleiben. Wer weiß, wie lange es Charles Delacroix gefällt, mich wegzusperren? Jetzt spricht er von Januar, aber ich vertraue ihm nicht mehr. Ganz zu schweigen davon, dass ich nicht weiß, ob ich das überleben würde. Eventuell hat letzte Nacht jemand versucht, mich zu vergiften. Ich muss hier raus. Es gibt keine Alternative.«
Mr. Kipling nickte Simon Green zu. »Dann werden wir dir helfen, einen Plan auszuarbeiten.«
Der junge Anwalt senkte die Stimme. »Meiner Meinung nach haben wir die beste Möglichkeit, dich herauszuholen, solange du noch auf der Krankenstation bist. Danach wirst du zu eng bewacht, und wir kommen nicht mehr so leicht an dich heran.«
Ich nickte.
»Im Grunde genommen müssen wir zweierlei tun. Zum einen eine Möglichkeit finden, dich hier rauszubekommen. Und dann überlegen, wo du hingehen könntest«, sagte Mr. Kipling.
»Japan?«, schlug Simon Green vor.
»Nein. Auf gar keinen Fall.« Ich wollte den Rest meiner Familie nicht schnurstracks zu meinem Bruder führen.
»Die Balanchines haben überall auf der Welt Freunde. Wir werden etwas Passendes für dich finden«, sagte Mr. Kipling.
Ich nickte. »Für Natty und Imogen muss ich mir natürlich auch etwas überlegen.«
Mr. Kipling nickte ebenfalls. »Ich verspreche, dass Simon Green oder ich jeden Tag bei ihnen vorbeischauen werden, solange du fort bist. Aber tatsächlich sehe ich keinen Grund, warum sich etwas ändern sollte.«
»Aber was ist, wenn sich meine Verwandten oder die Presse plötzlich für Nattys Wohlergehen interessieren, weil ich weg bin?«
Mr. Kipling dachte darüber nach. »Ich könnte Nattys gesetzlicher Vormund werden, wenn du möchtest.«
»Das würden Sie für mich tun?«
»Ja. Vor langer Zeit hatte ich Sorge, das würde unsere geschäftliche Beziehung verkomplizieren, aber seit Galinas Tod denke ich über diese Möglichkeit nach, und ich glaube, das ist für mich die beste Art, dir zu helfen. Ich hätte dir das schon letztes Jahr angeboten, aber es entwickelte sich alles so schnell, nachdem Leo auf Yuri Balanchine geschossen hatte. Und als du die Sache mit Charles Delacroix geklärt hattest, sah es aus, als wäre es nicht mehr nötig. Aber vielleicht wäre es doch die beste Lösung, das ein für alle Mal zu klären.«
»Danke«, sagte ich.
Simon Green schaute Mr. Kipling an. »Ansonsten könnten wir Natty auch auf ein Internat außerhalb des Bundesstaats oder des Landes schicken. Kurzfristig könnte das einfacher sein. Verzeih, Stuart, aber du hast ein schwaches Herz, und der Zeitpunkt des Antrags könnte für Stirnrunzeln sorgen.«
Eine Schwester kam ins Zimmer. »Ms. Balanchine muss sich jetzt ausruhen.«
Mr. Kipling gab mir einen Kuss auf die Wange. »Es tut mir sehr leid, dass wir dich nicht besser beraten haben.«
»Sie haben es ja versucht, Mr. Kipling. Sie haben mich gewarnt, nicht nach Trinity zurückzukehren. Sie haben mir gesagt, ich solle Win aus dem Weg gehen. Ich wollte nicht darauf hören. Ich bilde mir immer ein, dass ich schlau bin, aber dann stellt sich wieder heraus, dass ich alles falsch gemacht habe.«
Mr. Kipling nahm meine gefesselte Hand. »Das ist nicht allein dein Fehler, Anya. Alles andere als das.«
»Wann hört das endlich auf, dass ich mich ständig irre?«
»Du hast ein gutes Herz. Und du hast Köpfchen. Aber du bist schließlich jung und auch nur ein Mensch, deshalb muss man Zugeständnisse machen.«
V. Ich nehme Abschied
Die folgende Woche verbrachte ich mit Handschellen ans Bett gefesselt und plante meine Flucht von Liberty Island. Auf der Krankenstation war die Zahl meiner Besucher nicht so streng begrenzt, was unglaublich praktisch war. Irgendwann würde ich demjenigen danken müssen, der mich vergiftet hatte. (Ja, ich war vergiftet worden, und wenn ich die Zeit gehabt hätte, auch nur ein bisschen über die Sache nachzudenken, hätte mir der Übeltäter völlig klar sein müssen.)
Der erste Besucher, den ich am Dienstagmorgen hatte, war Yuji Ono. »Wie geht es deinem
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