Edelherb: Roman (German Edition)
Herzen?«, fragte er zur Begrüßung.
»Schlägt noch«, erwiderte ich. »Ich dachte, du müsstest schon Montag wieder abreisen.«
»Ich habe einen Grund gefunden, um meinen Aufenthalt zu verlängern.« Er beugte sich vor, dann kniete er sich neben mein Bett, so dass seine Lippen auf Höhe meines Ohrs waren. Er flüsterte: »Simon Green hat mir erzählt, dass du New York verlassen willst. Das ist gut. Ich finde, du solltest irgendwo hingehen, wo du das Geschäft lernen kannst.«
»Ich kann nicht nach Japan gehen«, entgegnete ich.
»Das weiß ich, auch wenn ich aus persönlichen Gründen wünschte, es wäre anders. Ich glaube, ich habe eine Alternative für dich. Sophia Bitters Verwandte haben eine Kakaoplantage an der Westküste von Mexiko. Du kannst mit dem Schiff dorthin fahren, und die Verbindung zu Balanchine Chocolate liegt nicht so klar auf der Hand, dass jemand auf die Idee käme, dort nach dir zu suchen.«
»Mexiko«, sagte ich. »Ich bin ein Stadtmensch, Yuji.« Eine Plantage in Mexiko, das klang sehr weit weg von allem, was ich kannte.
»Hat dir dein Vater mal gezeigt, wo der Kakao wächst?«, fragte er.
Ich schüttelte den Kopf.
»Möchtest du nicht gerne wissen, was die Ursache all diesen Übels ist?« Seine behandschuhte Hand schweifte durch das graue Krankenzimmer.
Ich erwiderte, ich hätte nie groß darüber nachgedacht.
»Vertraust du mir, Anya?« Yuji nahm meine gefesselte Hand in seine. »Glaubst du, dass ich nur das will, was für dich am besten ist?«
Ich dachte darüber nach. Ja, ich wusste, dass ich ihm vertrauen konnte.
»Dann weißt du auch, dass es nicht einfach so dahergesagt ist, wenn ich dir rate, dorthin zu gehen. Du wirst besser auf die Aufgabe vorbereitet sein, eines Tages Balanchine Chocolate zu übernehmen, wenn du dich damit auskennst, wie Kakao angebaut wird. Damit wirst du mir als Partnerin überlegen sein. Als Geschäftspartnerin, meine ich.« Er ließ meine Hand los und rückte noch näher an mich heran. »Hab keine Angst, Anya.«
»Habe ich nicht.« Ich sah ihm in die Augen. »Mir macht nichts mehr Angst, Yuji.«
»Die Wärme und die Sonne werden dir guttun, und du wirst nicht einsam sein, denn Sophias Verwandtschaft ist sehr freundlich. Falls es dir etwas bedeutet – es wäre einfach für mich, einen Vorwand zu erfinden, um dich dort zu besuchen.«
Was machte es schon für einen Unterschied, wohin ich ging? Ich verließ die einzige Heimat, die ich kannte. »Ich spreche kein Spanisch«, sagte ich seufzend. In der Schule hatte ich Mandarin und Latein gewählt.
»Dort sprechen viele Leute Englisch«, sagte Yuji.
Und damit war es beschlossene Sache. Ich würde mich am Sonntag kurz vor der Morgendämmerung von New York verabschieden.
Der Dienstagnachmittag brachte mir Scarlet, die wieder weinen musste. Ich sagte ihr, wenn sie jedes Mal weine, sobald sie mich sehe, würde ich nicht mehr von ihr besucht werden wollen. Sie schniefte und erklärte theatralisch: »Ich musste mit Gable Schluss machen!«
»Das tut mir leid, Scarlet«, sagte ich. »Was ist denn passiert?«
Sie hielt mir ihren Tablet hin. Auf dem Bildschirm prangte das Foto von Win und mir im Speisesaal, darüber die Schlagzeile, die mir Charles Delacroix zwei Tage zuvor vorgelesen hatte: »Der Staatsanwalt und die Mafia«.
»Nein, mir tut es leid, Annie. Gable hat dieses Foto gemacht, und was noch schlimmer ist: Er hat es verkauft!«
»Was meinst du damit?«
»Zum achtzehnten Geburtstag hat er ein Kamerahandy mit Teleobjektiv bekommen«, erklärte Scarlet. (Vielleicht ist dem Leser noch bekannt, dass Minderjährige damals keine Kamerahandys besitzen durften.) »Und als ich heute Morgen dieses Bild in den Nachrichten sah, wusste ich, dass es nur jemand von unserer Schule gemacht haben konnte. Ich bezweifelte, dass es einer von den Lehrern war, blieben also nur die Schüler über achtzehn Jahre. Ich sprach Gable an: ›Wer würde Annie so etwas antun? Wer würde so tief sinken? Hat sie es nicht schon schwer genug?‹ Aber er wich mir irgendwie aus. Da wusste ich es, ich wusste es einfach! Ich habe ihn geschubst, so heftig ich konnte. Er verlor das Gleichgewicht und fiel hin. Ich stellte mich über ihn und schrie ihn an: ›Warum?‹ Und er sagte nur: ›Ich liebe dich, Scarlet. Tu das nicht!‹ Ich dann: ›Beantworte meine Frage, Gable. Sag mir einfach nur, warum!‹ Und zum Schluss seufzte er und sagte, es hätte nichts mit dir oder Win zu tun. Er hätte es fürs Geld getan. Vor Wochen wäre jemand
Weitere Kostenlose Bücher