Edelherb: Roman (German Edition)
geht, dann stehen Sie wie ein Ungeheuer da.«
Charles Delacroix schien nicht zu hören, was ich gerade gesagt hatte. »Aber du hast gegen mehrere Gesetze verstoßen, seit du aus Liberty entlassen wurdest, nicht?«
Er drehte seinen Tablet wieder zu mir herum. Zuerst kam ein Bild von mir, wie ich auf dem Union Square mit Schokolade bezahlte. Dann ein Foto, auf dem ich bei Fats Kaffee trank. Schließlich eine Aufnahme, wie ich aus Yuji Onos Wagen stieg. Sie hatte einen Zeitstempel: 0 . 25 Uhr. In anderen Worten: nach der Sperrstunde. Das alles waren kleinere Vergehen. Leider saß ich vor dem König der Ahndung von Bagatelldelikten.
»Sie haben mich beschatten lassen!«
»Ich brauchte eine Absicherung, falls du dich nicht an unsere Abmachung halten würdest. Du wirst, zu Recht oder Unrecht, hier als Straftäter angesehen. Und wie du sehr gut weißt, gilt die milde dreimonatige Haftstrafe nur, wenn du nicht wieder rückfällig wirst. Wenn ich dich für, sagen wir mal, ein Jahr nach Liberty schickte, wären zwei meiner Probleme gelöst. Niemand könnte mehr behaupten, ich hätte dich begünstigt, und es gäbe keine Geschichten mehr über Win und dich.«
»Ich kann hier kein Jahr bleiben«, flüsterte ich.
»Wie wäre es dann mit sechs Monaten? Bis dahin ist die Wahl gelaufen.«
»Ich kann nicht.« Ich würde nicht vor Charles Delacroix weinen. »Ich kann einfach nicht.«
»Dafür werde ich dir versprechen, dass deine kleine Schwester in Ruhe gelassen wird, falls das deine Sorge ist.«
»Drohen Sie mir etwa?«, fragte ich.
»Ich drohe nicht, ich feilsche. Wir feilschen miteinander, Anya. Vergiss nicht, ich habe triftige Gründe, dich wieder nach Liberty zu schicken: Schokoladenbesitz, Koffeinkonsum, Verstoß gegen die Ausgangssperre.«
Ich fühlte mich wie ein Tier in der Falle.
Ich war ein Tier in der Falle.
Ich wollte mit Mr. Kipling sprechen, auch wenn ich irgendwie wusste, dass er mich hiervor nicht schützen konnte. Ich hatte Pech gehabt, ja, aber ich war auch unglaublich dumm gewesen. »Die Wahl ist in der zweiten Novemberwoche. Sie könnten mich doch Weihnachten wieder herauslassen. Das wären drei Monate.«
Charles Delacroix dachte darüber nach. »Sagen wir: vier. Ende Januar klingt einfach besser. Wenn du direkt einen Monat nach der Wahl wieder herauskämst, könnte das falsch verstanden werden.«
Ich nickte. Er schob seine Hand zwischen den Gitterstäben hindurch, und nach einer kurzen Pause ergriff ich sie. Mein Handgelenk tat furchtbar weh, ich zuckte zusammen.
Charles Delacroix erhob sich. »Tut mir leid, das hier. Ich sorge dafür, dass du nicht noch einmal in den Keller gebracht wirst. Ich wollte nur sichergehen, dass wir miteinander sprechen können, ohne beobachtet zu werden.«
»Danke«, sagte ich schwach. Aber ich wusste, dass er log. Mich in den Keller zu schicken war eine sehr subtile Art der Einschüchterung gewesen.
Kurz bevor er gehen wollte, drehte er sich noch einmal um und kniete sich vor den Verschlag, so dass wir auf Augenhöhe waren. »Anya«, flüsterte er, »warum konntest du es uns beiden nicht einfacher machen und für ein Jahr verschwinden? Verwandte in Russland besuchen? Ich weiß, dass du Freunde in Japan hast. Ein Mädchen wie du hat bestimmt Freunde in allen Königreichen der Welt.«
»New York ist meine Heimat, und ich wollte die Highschool abschließen«, erwiderte ich etwas lahm.
»Dein Anwalt hätte nie zulassen dürfen, dass du nach Trinity zurückkehrst.«
»Mr. Kipling wollte das auch nicht. Ich habe das alles selbst zu verantworten. Ich hätte mehr auf der Hut sein müssen.«
»Für den Busunfall konntest du nichts«, sagte Delacroix. »Da hattest du einfach Pech. Beziehungsweise wir beide.«
»Vor allem das Mädchen, das dabei starb.«
»Ja, du hast recht, Anya. Vor allem sie. Ihr Name war Elizabeth.« Charles Delacroix griff an den Stäben vorbei, um meine Wange zu streicheln. »Dieser Laden hier wird miserabel geführt. Alles voller Löcher. Wenn du in einer Woche oder zwei zufällig in eins fallen solltest, glaube ich nicht, dass man nach dir suchen würde.«
»Sie wollen mir Angst machen.«
»Ganz im Gegenteil, Anya. Ich versuche, dir zu helfen.«
Langsam verstand ich, was er meinte. »Aber wie soll ich jemals zurückkommen?«
Er stand auf und nahm seinen Thermosbecher mit. »Du hast einen neuen Freund, der Staatsanwalt von New York werden wird. Ein Freund, der findet, dass die Prohibitionsgesetze völlig in die falsche Richtung gehen und
Weitere Kostenlose Bücher