Edelherb: Roman (German Edition)
Schokoladenfabriken in Oaxaca, weshalb ich derjenige bin, der dich heute abholen muss.«
Oaxaca oder Chiapas, das war eh egal, dachte ich.
»So, hast du jetzt Hunger oder nicht?«, fragte Theo.
Ich schüttelte den Kopf. Zwar hatte ich Hunger, aber ich konnte es nicht erwarten, ans Ziel zu kommen. Ich sagte Theo, ich müsste zuerst noch zur Toilette, danach könnten wir uns auf den Weg machen.
Auf dem WC nahm ich mir einen Moment Zeit, um mich im Spiegel zu betrachten. Theo hatte recht: Ich war nicht mehr hübsch, doch zum Glück war ich auch nicht besonders eitel. Außerdem hatte ich ja einen Freund, mehr oder weniger, und ich war eh nicht in der Stimmung, mit Jungen zu flirten. Ich wusch mir das Gesicht, widmete mich ausführlich dem Rest, den der Hautkleber auf meiner Oberlippe hinterlassen hatte, und kämmte mir das Haar mit Wasser nach hinten. Ach, wie ich meine Mähne vermisste! Dann warf ich das Halstuch in den Müll, rollte die Hemdsärmel auf und ging zurück zu Theo.
Er musterte mich. »Schon nicht mehr ganz so hässlich.«
»Danke. Etwas Netteres hat noch nie jemand zu mir gesagt.«
»Komm, der Wagen steht da drüben.« Ich folgte ihm nach draußen. »Wo ist dein Gepäck?«
Ich log wieder, dass es vorgeschickt worden sei.
»Egal. Meine Schwester leiht dir alles, was du brauchst.«
Theos Auto war ein grüner Pick-up. Auf eine Seite war GRANJA MAÑANA mit goldener Farbe gemalt, darunter eine Ansammlung von Blättern in Herbstfarben. (Später sollte ich lernen, dass es sich nicht um Blätter handelte.)
Das Führerhaus war sehr hoch, Theo streckte mir die Hand entgegen, um mich hochzuziehen. »Anya«, sagte er mit gefurchter Stirn, »verrat meiner Schwester bitte nicht, dass ich gesagt habe, du wärst nicht hübsch. Sie findet immer, ich hätte kein Benehmen. Das stimmt wahrscheinlich, aber …« Er lächelte mich an. Ich vermutete, dass ihm dieses Lächeln allen möglichen Ärger ersparen, aber auch bescheren konnte.
Wir verließen die Stadt Oaxaca und gelangten auf eine Straße, die auf einer Seite von einer Wand grüner Berge und dem Regenwald begrenzt wurde, auf der anderen vom Meer. »Du bist also eine Freundin von Cousine Sophia?«
Ich nickte.
»Und du bist hier, um dir den Kakaoanbau anzusehen?«
Erneut nickte ich.
»Da hast du viel zu lernen.« Wahrscheinlich spielte er auf meinen peinlichen Patzer an, dass ich vermutet hatte, in Oaxaca werde Kakao angebaut.
Er sah mich von der Seite an. »Du kommst aus den Vereinigten Staaten. Macht deine Familie in Schokolade?«
Ich überlegte. »Nicht richtig«, log ich.
»Ich frage nur, weil viele von Sophias Bekannten in Schokolade machen.«
Ich wusste nicht, ob ich Theo und seiner Familie vertrauen konnte. Bevor ich New York verlassen hatte, erklärte mir Simon Green, dass er es für das Beste hielt, wenn ich meine Geschichte, so gut es gehe, für mich behielt. Glücklicherweise hakte Theo an dieser Stelle nicht weiter nach. »Wie alt bist du?«, wollte er wissen. »Du siehst aus wie ein kleines Kind.«
Das lag am Haar. »Ich bin neunzehn«, log ich erneut. Ich fand, es sei besser für mich, wenn niemand wusste, dass ich siebzehn war. Zu behaupten, ich sei achtzehn, klang in meinen Ohren offensichtlicher nach einer Lüge.
»Dann sind wir gleich alt«, teilte Theo mir mit. »Ich werde im Januar zwanzig. Ich bin das Küken in der Familie, deshalb bin ich so verwöhnt. Die Umstände haben mich zu einem verhätschelten Schoßhündchen gemacht.«
»Wen gibt es noch bei euch?«
»Meine Schwester Luna. Sie ist dreiundzwanzig und sehr neugierig. Zu mir kannst du beispielsweise sagen: ›Ach, Theo, meine Familie macht
nicht wirklich
in Schokolade‹, ich frage nicht weiter nach. Das ist deine Sache. Aber bei Luna musst du eine bessere Antwort parat haben, nur dass du’s weißt. Dann gibt es noch meinen Bruder Castillo. Er ist neunundzwanzig. Übers Wochenende ist er immer zu Hause, sonst ist er am Priesterseminar. Er ist sehr ernst, du wirst ihn überhaupt nicht mögen.«
Ich lachte. »Ich mag ernste Menschen.«
»Nein, das war ein Witz. Alle sind ganz vernarrt in Castillo. Er sieht sehr gut aus und ist jedermanns Liebling. Du solltest ihn aber nicht lieber mögen als mich, nur weil ich nicht so ernst bin.«
»Ich mag ihn wahrscheinlich lieber als dich, wenn er es schafft, mich in der ersten Minute unseres Kennenlernens nicht hässlich zu nennen«, gab ich zurück.
»Ich dachte, das hätten wir abgehakt. Ich habe das erklärt! Ich habe
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