Edelherb: Roman (German Edition)
so feuchten, so grünen Ort gewesen. Das musste ich Theo einfach mitteilen. »Ja, Anya«, sagte er in einem Tonfall, den ich später als seinen äußerst geduldigen kennenlernen sollte, »so ist das, wenn man im Regenwald lebt.«
Schließlich gelangten wir an ein Eisentor mit der Aufschrift MAÑANA . Ein zweites Tor war bereits geöffnet, und als wir es passierten, konnte ich lesen, dass darauf GRANJA stand.
Wir fuhren über eine lange unbefestigte Straße. »Das ist die Farm«, erklärte Theo.
Die Kakaobäume waren ungefähr doppelt so groß wie die Arbeiter, die sich um sie kümmerten. Zum Bearbeiten benutzten die Männer flache Schwerter, die über dreißig Zentimeter lang waren.
»Sie beschneiden die Bäume«, informierte Theo mich.
»Wie nennt man das Werkzeug, mit dem sie das machen?«, wollte ich wissen.
»Eine Machete.«
»Ich dachte, damit würde man Menschen umbringen«, sagte ich.
»
Si,
ich habe gehört, dass man sie dafür auch gebrauchen kann.«
Schließlich hielt Theo vor dem Haupthaus von Granja Mañana.
»Mi casa«,
sagte er.
Granja Mañana war so groß wie ein Hotel. Es bestand aus zwei Stockwerken, war in einem verblichenen gelben Farbton gestrichen und hatte graues Mauerwerk um die Fenster und Bögen. Im unteren Geschoss zog sich eine offene Veranda unter mehreren Bögen hindurch. Sie war mit blau-weißen Kacheln gefliest. Im ersten Stock gab es große Fenster und Steinbalkone, das Dach war mit runden Terrakottaziegeln gedeckt.
Als ich aus dem Wagen stieg, entdeckte ich Theos Mutter auf der Veranda. Sie trug eine weiße Bluse und einen khakifarbenen Rock, dazu eine Korallenkette. Ihr dunkelbraunes Haar reichte ihr bis zur Taille. Sie sagte etwas auf Spanisch zu Theo, dann nahm sie ihn in die Arme, als hätte sie ihn seit Wochen nicht gesehen. Es stellte sich allerdings heraus, dass er nur einen Tag lang fort gewesen war.
»Mama, das ist Anya Barnum«, stellte er mich vor.
Theos Mutter umarmte mich ebenfalls. »Herzlich willkommen!«, sagte sie. »Willkommen, Anya. Bist du die Freundin meiner Nichte Sophia, die bei uns etwas über den Kakaoanbau lernen möchte?«
»Ja. Danke, dass Sie mich aufnehmen.«
Sie schaute mich an, schüttelte den Kopf und sagte erneut auf Spanisch etwas zu Theo, dann schüttelte sie abermals den Kopf. Sie hakte sich bei mir unter und führte mich ins Haus.
Innen war es noch bunter als von außen. Die Möbel waren sämtlich aus dunklem Holz, die Wände, Kissen und Teppiche hingegen leuchteten in allen Farben des Regenbogens. Über dem Kaminsims hing ein fast kindlich anmutendes Gemälde von einer Frau inmitten eines Feldes roter Rosen, die ich anfangs für die Jungfrau Maria hielt. (Später erfuhr ich, dass es sich um die Jungfrau von Guadalupe handelte.) Ich entdeckte mehrere blaue Vasen aus schwerem Glas, in denen Orchideen standen. (Die Orchideen stammten vom hiesigen Feld. Meine eigene Nana wäre begeistert gewesen.) Eine wie die Veranda blau-weiß geflieste Wendeltreppe befand sich in der Mitte des großen Wohnzimmers. Es gab viel zu sehen, mir wurde wieder schwindelig. Ich vermute aber, dass es nicht an der Einrichtung, sondern an der Feuchtigkeit und dem Umstand lag, dass ich lange nichts gegessen hatte.
»Sag doch Luz zu mir«, bot Theos Mutter mir an.
»Luz«, begann ich. »Ich …« In den vergangenen Wochen hatte ich gewisse Übung im Umkippen bekommen, ich merkte, dass ich langsam das Bewusstsein verlor. Ich versuchte, mich zu einem der Sofas zu schleppen, damit ich nicht mit dem Kopf auf diesen malerischen, aber ehrlich gesagt ziemlich unerbittlich aussehenden Fliesen aufschlug. Vorsichtig ließ ich mich nach hinten sinken. Ich sah, dass Theo auf mich zustürzte, aber er war nicht schnell genug. Kurz bevor ich auf dem Boden auftraf, fingen mich starke Arme auf.
Ich schaute hoch. Vor mir erblickte ich ein sehr kantiges Gesicht mit kräftigem Kinn und breiter Nase. Die Augen waren hellbraun und sehr ernst, der Mund war irgendwie streng. Der Mann hatte so lange Bartstoppeln, dass man sie fast schon als Bart bezeichnen konnte, dazu unglaublich dicke Augenbrauen. »Hast du dich verletzt?«, fragte er auf Spanisch, aber ich verstand trotzdem, was er meinte. Er hatte eine sehr tiefe Stimme, die in mir das Bild einer sprechenden Eiche heraufbeschwor.
»Nein, ich muss mich einfach nur hinlegen«, sagte ich. »Danke, dass Sie mich aufgefangen haben. Wer sind Sie überhaupt?«
Ich hörte Theo schwer seufzen. »Das ist mein Bruder Castillo,
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