Edelherb: Roman (German Edition)
hab Sie nicht erkannt! Vor zehn Minuten waren Sie noch so ein attraktives kleines Ding, und jetzt sind Sie völlig unscheinbar.«
»Vielen Dank«, sagte ich.
Ich verschränkte die Arme vor der Brust.
In Newark Bay angekommen, gab es Hunderte von Containern und Schiffen. Kurz übermannte mich die Müdigkeit, und ich befürchtete, nicht das richtige zu finden. Doch dann fielen mir Simon Greens Anweisungen wieder ein – Reihe drei, Frachtschiff Nummer elf – und schnell fand ich das Schiff, das mich nach Puerto Escondido in Oaxaca an der Westküste Mexikos bringen sollte.
Aus zwei Gründen hatten sich Simon Green und ich für ein Frachtschiff entschieden: 1 ) weil die Behörden, wenn sie denn nach mir Ausschau hielten, wahrscheinlich auf Flughäfen, Bahnhöfen und höchstens auf Passagierschiffen suchen würden und 2 ) weil meine Familie gute Beziehungen zu Exporteuren hatte, wodurch es einfach war, ein Frachtschiff zu finden, das mir Unterschlupf gewährte.
Das einzige Problem bei diesem Plan war, dass ein Passagier auf einem Frachtschiff letztendlich zur Fracht zählte. Der Erste Offizier, eine Frau, wies mir einen verrosteten, fensterlosen Metallcontainer zu, in dem ein Feldbett, ein Eimer und eine Kiste mit alt wirkendem Obst standen – immerhin: Obst!
»Nicht gerade luxuriös«, sagte sie.
Ich musterte den Raum. Er wirkte etwas komfortabler als der Keller von Liberty.
Der Erste Offizier beäugte mich argwöhnisch. »Haben Sie kein Gepäck?«
Ich senkte meine Stimme in dem Versuch, möglichst jungenhaft zu klingen, und erklärte, meine Sachen wären vorausgeschickt worden. Was übrigens nicht stimmte. Ich war ein Mensch ohne jeden Besitz. Das an sich war schon eine verwirrende Erfahrung.
»Was führt Sie denn nach Mexiko, Mr. Barnum?«
»Ich bin Naturforscher. In Oaxaca gibt es mehr Pflanzenarten als irgendwo sonst auf der Welt.« So etwas Ähnliches hatte Simon Green mir erzählt.
Sie nickte. »Dieses Schiff hat eigentlich keine Erlaubnis, in Puerto Escondido anzulegen«, erklärte sie mir. »Aber ich sorge dafür, dass der Kapitän die Maschine stoppt, dann rudert Sie einer von der Crew rüber.«
»Danke«, sagte ich.
»Nach Oaxaca sind es rund dreitausendvierhundert Seemeilen, und bei einer angenommenen Geschwindigkeit von vierzehn Knoten sollten wir in ungefähr zehn Tagen dort eintreffen. Hoffentlich werden Sie nicht seekrank.«
Ich hatte noch nie eine längere Schiffsreise gemacht, daher wusste ich nicht, ob ich zur Seekrankheit neigte.
»In gut einer Dreiviertelstunde legen wir ab. Wird ziemlich langweilig da draußen, Mr. Barnum. Wenn Sie mit uns Karten spielen wollen, Sie finden uns jeden Abend im Kapitänsquartier. Wir spielen Coeur.«
Wie vielleicht zu erwarten, kannte ich die Spielregeln beim Coeur nicht, doch ich erwiderte, ich würde versuchen zu kommen.
Kaum war der Erste Offizier fort, schloss ich die Tür meines Containers und legte mich auf die Pritsche. Ich war zwar erschöpft, konnte aber nicht schlafen. Unablässig wartete ich darauf, dass eine Sirene ertönte und meldete, dass ich entdeckt worden war und zurück nach Liberty musste.
Schließlich hörte ich das Schiffshorn. Wir legten ab! Ich bettete meinen geschorenen Kopf auf den flachen Federsack, der mal ein Kopfkissen gewesen sein musste, und schlief sofort ein.
VI. Ich bin auf See, mache zu enge Bekanntschaft mit einem Eimer und wünsche mir den Tod
An den zehn Tagen der Überfahrt hatte ich nicht viel Gelegenheit, irgendein Spiel zu erlernen, abgesehen von dem Spiel, dem ich den liebevollen Beinamen »Renne quer durch den Container zum Eimer« gegeben hatte. Ja, ganz richtig: Ich war seekrank. Ich sehe keinen Sinn darin, mit den entsprechenden Details zu langweilen, es genügt zu erwähnen, dass ich mich einmal so heftig übergeben musste, dass mir der Schnurrbart von der Oberlippe flog.
Diese neue Plage erlaubte mir nicht, sehr tief zu schlafen, stattdessen hatte ich Halluzinationen oder, wie ich vermute, Wachträume. In einer Vision ging es um ein Krippenspiel, das in Holy Trinity aufgeführt wurde. Scarlet hatte natürlich die weibliche Hauptrolle. Sie war gekleidet wie die Jungfrau Maria und hatte ein Kind auf dem Arm, das wie Gable Arsley aussah. Win stand neben ihr, vielleicht sollte er Josef sein, ich wusste es nicht genau. Er trug wieder eine Mütze, doch statt seines Gehstocks hatte er einen Stab in der Hand. An seiner Seite war Natty, die einen Karton Balanchine Extra Herb in der Hand hielt,
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