Edelherb: Roman (German Edition)
und neben ihr stand Leo mit einem Becher Kaffee und einem Löwen an der Leine. Aus irgendeinem Grund war ich der Löwe. Das erkannte ich an meiner gestutzten Mähne. Natty kraulte mich zwischen den Ohren, dann bot sie mir ein Stück Schokolade an. »Nimm eins«, sagte sie. Ich tat wie mir geheißen, doch kurz darauf war ich wieder wach und stürzte durch den Raum, senkte den Kopf über den Eimer. Ich hatte keine Ahnung, was ich zu diesem Zeitpunkt noch auswürgte – ich hatte seit Tagen so gut wie nichts mehr gegessen. Meine Bauchmuskeln taten weh, mein Hals war furchtbar wund. Ich konnte von Glück sagen, dass ich mir die Haare abgeschnitten hatte, denn es war niemand da, der sie für mich zurückhielt. Ich war ein Flüchtling ohne Freunde, und ich vermutete, dass es keinen deprimierteren und elenderen Menschen auf der ganzen Welt gab als Anya Balanchine.
VII. Ich beginne ein neues Kapitel in Granja Mañana
Endlose zehn Tage später erreichten wir Oaxaca, wo ich in ein kleines Dinghi umstieg, das von einem Matrosen namens Pip gesteuert wurde.
Als wir uns dem Ufer näherten, löste sich meine Seekrankheit in Wohlgefallen auf, nur um von einem Heimweh abgelöst zu werden, wie ich es noch nie verspürt hatte. Es lag nicht daran, dass die Küste von Oaxaca nicht bezaubernd gewesen wäre. Die Dächer erstrahlten in verheißungsvollen Farben wie Orange, Rosa, Türkis und Gelb, und das Meer war blauer und roch besser als jedes Gewässer in meiner Heimat. In der Ferne konnte ich Berge und Wälder ausmachen, sie waren so grün, dazwischen konnte man schneeweiße Wirbel sehen. Waren das Wolken oder Nebel? Ich wusste es nicht – schneeweiße Wolken, das war ein meteorologisches Phänomen, mit dem wir Stadtmädchen nicht vertraut waren. Draußen herrschten knapp zwanzig Grad, warm genug, dass die Unterkühlung, die ich mir geholt hatte, als ich vor zehn Tagen nach Ellis Island geschwommen war, endlich abzuklingen begann. Dennoch war ich hier nicht zu Hause. Dies war nicht der Ort, wo meine Schwester lebte oder wo meine Großmutter und meine Eltern gestorben waren. Es war nicht der Ort, wo ich mich in den unpassendsten Jungen der Welt verliebt hatte. Es war nicht das Land von Trinity oder von Stadtbussen, die das Konterfei des Vaters meines Freundes durch die Gegend fuhren. Es war nicht das Land der Schokoladendealer und leeren Schwimmbecken. Hier kannte mich niemand, und ich kannte niemanden – will sagen, der Plan von Mr. Kipling und Simon Green war aufgegangen! Vielleicht sogar zu gut. Ich mochte in diesem kleinen Boot sterben, ohne dass es jemanden kümmerte. Wenn man mich fände, wäre ich nicht mehr als eine geheimnisvolle Leiche mit einem schlechten Haarschnitt. Vielleicht würde irgendwann ein Polizist vor Ort auf die Idee kommen, mich anhand der Tätowierung an meinem Knöchel zu identifizieren. Sie war das Einzige, das mich, meinen Körper, als Anya Balanchine auswies. Dieses armselige Tattoo war das Einzige, das mich vorm Vergessen bewahrte.
Ich wollte weinen, hatte aber Angst, vor dem Matrosen unmännlich zu wirken. Auch wenn ich mich noch nicht im Spiegel gesehen hatte, spürte ich, wie furchtbar ich aussah. Ich konnte die Flecken vom Erbrochenen auf meiner Kleidung sehen und leider auch riechen. Ich hatte ja nichts zum Wechseln dabei gehabt. Über meine Haare wollte ich gar nicht nachdenken. Dafür spürte ich, dass mir mein oft misshandelter Schnurrbart von der Lippe rutschte. Sobald der Matrose und ich uns verabschiedeten, würde ich dieses Ding entsorgen. Wenn ich mich als Junge ausgeben sollte – ich wusste noch nicht, welche Geschichte Sophias Verwandten aufgetischt worden war –, dann auf jeden Fall als Junge ohne Gesichtsbehaarung.
Wir hatten die Küste fast erreicht, als der Matrose zu mir sagte: »Angeblich findet man hier den ältesten Baum der Welt.«
»Ah«, machte ich. »Das ist ja … interessant.«
»Ich meine ja nur, weil der Kapitän sagte, sie würden die Botanik studieren.«
Stimmt. Die andere Lügengeschichte. »Ja, ich werde versuchen, ihn mir anzusehen.«
Der Matrose beäugte mich neugierig, dann nickte er. Wir hatten den Hafen von Puerto Escondido erreicht, und ich war froh, dieses Boot und Schiffe im Allgemeinen hinter mir zu lassen.
»Treffen Sie hier noch jemand anderes?«, fragte der Matrose.
Ich nickte. Ich sollte Sophias Cousine, eine Frau namens Theobroma Marquez, im Hotel Camino antreffen, das in einem Einkaufszentrum mit dem Namen El Adoquin zu finden war.
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