Edelherb: Roman (German Edition)
verliebt.«
»Hast du schon gesagt«, scherzte ich.
»Nein, nein, ich mag dich wirklich sehr gerne. Aber seitdem du hier bist … bin ich neidisch auf dich! Ich würde auch gerne mal was anderes sehen als diese Farm in Chiapas und die Fabriken in Oaxaca und Tabasco. Ich wäre gerne wie du, mir würde es auch gefallen, nicht zu wissen, was ich als Nächstes tun soll.«
»Theo, mir gefällt es hier.«
»Tja, für dich ist es lustig, hier zu sein, weil du nicht ewig bleiben musst. Ich möchte gerne den Rest meines Lebens nicht immer dieselben Menschen sehen müssen. Sie glauben, ich wäre verliebt in dich, und auf gewisse Weise bin ich das vielleicht auch. Ich freue mich, jemanden wie dich zu kennen. Ich freue mich, jemanden zu kennen, der mich für sachkundig hält, der anders spricht als ich und der mich nicht von früher kennt, als ich noch kurze Hosen trug. Ja, vielleicht liebe ich dich, wenn das heißt, dass ich den Tag fürchte, da du abreist. Weil ich weiß, dass mir meine Welt dann wieder so viel kleiner vorkommen wird.«
»Theo, mir gefällt es hier … Die Leute hier, deine Familie, sind unglaublich gut zu mir. Wo ich herkomme … Es ist anders, als du denkst. Ich hatte keine Wahl. Ich musste fort.«
Er sah mich an. »Was meinst du damit?«
»Ich würde es dir gerne erklären, aber ich darf nicht.«
»Ich erzähle dir all meine Geheimnisse, und du verrätst mir überhaupt nichts. Meinst du nicht, dass du mir vertrauen kannst?«
Ich dachte darüber nach. Ich vertraute ihm durchaus. Deshalb beschloss ich, ihm einen Teil der Geschichte zu erzählen. Zuerst musste Theo mir aber versprechen, keinem aus seiner Familie gegenüber jemals etwas davon zu erwähnen.
»Ich schweige wie ein Grab.«
»Ein ziemlich redseliges Grab«, sagte ich.
»Nein, du kennst mich, Anya. Ich rede nur Unsinn. Nie kommt etwas Wichtiges über meine Lippen.«
»Du sagst, du bist neidisch auf mich, aber ich versichere dir, Theo, ich habe weitaus mehr Grund, neidisch auf dich zu sein.« Ich erzählte ihm, dass mein Vater und meine Mutter umgebracht worden waren, dass mein älter Bruder verletzt wurde und sich nun versteckt hielt – dabei erwähnte ich aber nicht, dass auch ich auf der Flucht war –, dass meine Großmutter letztes Jahr gestorben und meine kleine Schwester als Einzige daheim geblieben war und dass es mich absolut fertigmachte, nicht jede Stunde des Tages bei ihr sein zu können. »Deine Probleme hätte ich nur allzu gerne.«
Theo nickte. Sein Blick und sein Unterkiefer verrieten mir, dass er weitere Fragen stellen wollte, doch er tat es nicht. Er schwieg sehr lange. »Jetzt hast du es wieder geschafft«, sagte er. »Ich fühle mich klein und dumm.« Er nahm meine Hand und grinste mich an. »Du bleibst doch noch bis zur Frühjahrsernte, oder? Es gibt noch so viel, was ich dir beibringen kann. Ich habe gerne jemanden da, mit dem ich reden kann.«
»Klar.« Natürlich wäre ich auch bei der nächsten Ernte noch da. Ich saß ebenso fest wie Theo, wenn nicht noch schlimmer. Ich würde hierbleiben, bis ich die Nachricht bekäme, ich könne zurückkehren nach New York, oder bis die Marquez’ mich nicht mehr haben wollten – was auch immer als Erstes geschah.
VIII. Ich habe einen unerwarteten Gast mit einer unerwarteten Bitte
Obwohl ich ein mehr oder weniger frommes katholisches Mädchen war, konnte ich Weihnachten die längste Zeit meines Lebens nicht ausstehen. Nicht wegen der Geschichte, dass Jesus in der Krippe geboren wurde, sondern wegen der dazugehörigen Feierei. Der Grund dafür liegt eigentlich auf der Hand. Zuerst hasste ich das Fest, weil meine Mutter tot war und weil es furchtbar war, Weihnachten ohne Mutter zu feiern. Als auch mein Vater starb, wurde aus dem Hass purer Horror. Später folgte eine kurze Zeit, in der Weihnachten mir nur noch wenig auf die Nerven ging, weil sich Nana so viel Mühe gab. Unter anderem nahm sie uns mit zu den Rockettes (Oh ja, es gab immer noch die Rockettes, und es wird sie immer geben!), wo sie sich über die tanzenden Damen lustig machte und uns Apfelsinenstückchen und Makronen in die Hand drückte. Mit Nanas Krankheit schlief diese Tradition natürlich ein, und ich hasste Weihnachten wieder wie eh und je. Seit Nanas Tod war dies das erste Weihnachtsfest, und ich war in Gedanken bei meiner Schwester Natty in New York. Ich konnte nur hoffen, dass Scarlet, Win und Imogen es ihr einigermaßen erträglich machten.
Weihnachten in Granja Mañana war aufwendig. Tagelang
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