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Edelherb: Roman (German Edition)

Edelherb: Roman (German Edition)

Titel: Edelherb: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gabrielle Zevin
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auf lange Sicht? Ich fand, es war allmählich sinnlos für mich geworden, mir langfristige Ziele zu setzen. »Mr. Kipling, ich bin völlig ausgebucht«, sagte ich leichthin. »Ich muss zur Beerdigung meines Onkels, muss einen Cousin im Gefängnis besuchen, und nächsten Samstag feiert Win seinen Geburtstag. Ich frage mich nur, wie ich jemals Zeit für die Schule hatte.«
    Wir waren vor unserem Haus angekommen, und Mr. Kipling sah mich mit nervtötend tragischem Gesichtsausdruck an. »Gut, meine Liebe, ich sehe zu, dass ich dir einen Privatlehrer besorge.«
    Vor der Tür zu unserer Wohnung warteten ein mittelgroßer Karton und ein Umschlag. Ich nahm beides mit hinein und legte sie auf den Küchentresen. Der Briefumschlag war nicht frankiert, da Umschläge aber eher selten Sprengstoff enthielten, öffnete ich ihn zuerst.
    Es war eine Mitteilung:
     
    Liebe Anya,
    vielleicht erinnern Sie sich an mich. Ich bin Sylvio Freeman, kurz Syl. Ich hatte Gelegenheit, Sie letzten Herbst kennenzulernen, als Sie sich in meiner Schule vorstellten. Ich habe gehört, dass Sie wieder in der Stadt sind und zumindest fürs Erste Ihre juristischen Probleme hinter sich lassen konnten. Ich hatte gehofft, Sie würden vielleicht auf einem »Kakao jetzt«-Treffen über Ihre Erfahrungen sprechen wollen. Wenn Sie Interesse haben, kommen Sie doch bitte …
     
    Ich warf den Brief beiseite, ohne mir die Mühe zu machen, ihn zu Ende zu lesen. Dann griff ich nach dem Karton. Die Briefmarke stammte aus Japan, der Absender war die Ono Sweets Company, wohinter natürlich Yuji Ono steckte. Das Paket war überraschend schwer. Ich überlegte, ob ich es öffnen sollte. Es konnte eine Bombe darin sein. Doch irgendwie bezweifelte ich, dass Yuji Ono mir ein Päckchen mit seinem Absender drauf schicken würde, wenn er mich aus dem Weg räumen wollte.
    Ich holte meine Machete aus meinem Zimmer und schlitzte den Karton auf. Darin befand sich eine Plastiktüte mit knapp einem halben Kilo Asche, dazu eine kleine weiße Karte.
    Leo.
    Liebe Anya,
    es tut mir leid, dass ich nicht persönlich nach New York kommen kann, um dies hier zu überbringen. Geschäftsprobleme sowie meine schlechte Gesundheit halten mich zurück. Es tut mir auch leid, wie wir auseinandergegangen sind. Das Timing der Ereignisse ließ zu wünschen übrig. Ich hoffe, Dir mein Verhalten irgendwann besser erklären zu können. Zu Deiner Information: Ich hatte Gelegenheit, Leos Leiche vor der Einäscherung noch einmal zu sehen, aber es war nur noch sehr wenig von ihm übrig. Ich glaube dennoch, dass er es war. Die Leiche seiner Freundin Noriko war identifizierbar, und seitdem wurde Leo nicht mehr in Japan gesehen.
    Du bist immer noch in meinen Gedanken. YUJI ONO
    Ach, Leo.
    Ein Teil von mir – ich nehme an, das Herz – hatte gehofft, Leos Tod sei vielleicht ein Irrtum, doch jetzt wusste ich, dass dem nicht so war. Der Verstand konnte die Beweise nicht leugnen. Leo war tot.
    Ich war froh, dass Natty in der Schule war, weil ich nicht wusste, wie ich es ihr beibringen sollte.
    Ich stellte die Asche auf den Couchtisch im Wohnzimmer und überlegte, wie ich weitermachen wollte. Leo brauchte ein Begräbnis, aber wenn ich das organisierte – wenn ich ihn beispielsweise im Familiengrab in Brooklyn beisetzen ließ –, könnte ich möglicherweise als Mitwisserin seiner Flucht gelten. Ich fand keinen Gefallen an der Vorstellung, zum fünften Mal nach Liberty zu gehen. Also war es vielleicht besser, den Abschied von Leo informell zu gestalten: an einem sonnigen Tag seine Asche im Park zu verstreuen, Natty ein Gedicht vorlesen lassen und so weiter. War es wirklich wichtig, dass Leos Überreste sich am gleichen Ort befanden wie die meiner Eltern? Sie waren eh alle tot.
    Ich wollte um Leo weinen. Ich spürte, wie sich das verrostete Getriebe hinter meinen Augen in Bewegung setzte, wie es sich in meiner Brust zusammenzog, doch es wollten keine Tränen kommen.
    Je länger ich Leos Asche betrachtete, desto mehr schämte ich mich. Die Maßnahmen, die ich in die Wege geleitet hatte, um Leo zu schützen, waren genau die falschen gewesen. Man beachte nur das Ergebnis! Mein Vater, wo auch immer er jetzt war, schämte sich wahrscheinlich für mich.
    Als Natty von der Schule nach Hause kam, hatte ich mich seit Stunden nicht mehr gerührt. Ihr Blick wanderte von mir zur Tüte und zurück zu mir. »Armer Leo«, sagte sie, bevor sie sich auf die Couch setzte.
    Sie beugte sich über den Tisch und hob die Tüte an einer

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