Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Edelherb: Roman (German Edition)

Edelherb: Roman (German Edition)

Titel: Edelherb: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gabrielle Zevin
Vom Netzwerk:
Ecke an, als wollte sie so wenig wie möglich damit zu tun haben. »Meinst du, da ist genug drin? Leo war so groß.« Sie stellte die Asche zurück auf den Tisch. »Ich habe letzte Nacht von ihm geträumt.«
    »Ich habe dich gar nicht schreien hören und nichts.«
    »Ich bin kein Kind mehr, Anya.« Sie verdrehte die Augen. »Außerdem war das kein Albtraum. Leo war gesund und wohlauf.« Sie hielt inne. »Ich finde, wir sollten ihn nicht beerdigen. Davon würde Leo nichts halten. Er war am liebsten bei uns zu Hause. Er war gerne hier.«
    Ich sagte ihr, ich würde in der folgenden Woche eine Urne besorgen.
    Dann ging ich in mein Zimmer. Ich holte den Schokoriegel aus meiner Tasche und legte ihn auf die Kommode.
    Wie er dalag, sah er so nett und harmlos aus. Überhaupt nicht tödlich.
     
    Am Samstag zog ich mein geliebtes schwarzes Kleid an und schleppte mich zu Onkel Yuris Beerdigung, die nicht in meiner Kirche stattfand, sondern in der russisch-orthodoxen, die die meisten Familienmitglieder besuchten. Ich überlegte, ob ich Natty mitnehmen sollte, entschied mich aber dagegen. Natty hatte Onkel Yuri noch weniger gekannt als ich, und ich wollte sie nicht in den Dunstkreis unserer geschätzten Verwandtschaft bringen. Ich erwog auch, meine Machete einzustecken, entschied mich aber ebenfalls dagegen. Da ich gefilzt werden würde, war es sinnlos. Ich ließ mich jedoch von einer der Wachen begleiten, die Mr. Kipling engagiert hatte, um vor unserer Wohnung aufzupassen – einen Schrank von Frau namens Daisy Gogol. Sie war ein Meter achtzig groß, hatte Arme so dick wie meine Beine und hätte sich dringend die Augenbrauen und die Oberlippe wachsen lassen müssen. Dennoch mochten Natty und ich sie am liebsten von allen. Daisy Gogol hatte eine melodiöse Stimme. Das sagte ich irgendwann zu ihr und erfuhr dann, dass sie eine ausgebildete Opernsängerin war, dann aber in die einträglichere Branche des Personenschutzes gewechselt hatte. Natty berichtete, sie hätte gesehen, wie Daisy Gogol die Vögel auf unserem Balkon fütterte.
    Der Gottesdienst war langweilig, da ich angesichts des Todes von Yuri Balanchine so gut wie nichts empfand. Daisy Gogol hingegen weinte ausgiebig. Ich fragte sie, ob sie Yuri gekannt habe. Sie hatte ihn nie kennengelernt, doch sie fand die Lesung aus dem Buch Kohelet so bewegend. Mit ihrer fleischigen Pranke umklammerte sie meine Hand.
    Seit der Nacht der drei Attentate war ich nicht mehr mit meinen Verwandten in einem Raum gewesen. In der ersten Reihe saß Mickey neben seiner Frau Sophia. Fats war zwei Bänke dahinter. Der Rest der Kirche war mit Angestellten von Balanchine Chocolate gefüllt. Einige davon waren entfernte Verwandte, die ich vom Sehen kannte (über die hier zu berichten ich bisher jedoch keinerlei Veranlassung gesehen habe). Mir kam der Gedanke, dass jeder dieser Menschen oder auch keiner von ihnen für die Attentate verantwortlich sein konnte. Die Welt war groß, und damals war ich überzeugt, sie sei voll potentieller Verbrecher.
    Als ich an der Reihe war, einen Blick auf Yuris Leiche zu werfen, beugte ich mich über den Sarg und bekreuzigte mich. Dem Bestatter war es gelungen, die Folgen von Yuris Schlaganfall vergessen zu machen, sein Gesicht wirkte nicht mehr so verzerrt wie bei meinem letzten Besuch. Seine Lippen waren in einem unnatürlich violetten Ton geschminkt, und ich fragte mich, was sie mir an jenem Septembertag hatten sagen wollen. Ich dachte an Yuris zweiten Sohn Jacks. Er war zur Beerdigung nicht aus dem Gefängnis gelassen worden, aber auch er hatte seinen Vater verloren. Und trotz allem, was Jacks getan oder unterlassen hatte, verspürte ich an diesem Tag ein Fünkchen Mitleid für meinen armen Cousin.
    Ich ging zu Mickey und Sophia, um ihnen mein Beileid auszusprechen. Mickey trug einen dunklen Anzug, wie zu erwarten war. Sophia hingegen hatte ein formloses braunes Kleid an, das an eine Toga erinnerte. Eine seltsame Wahl für eine Beerdigung.
    Mickeys Augen waren blutunterlaufen. Er nahm meine Hand in seine und bedankte sich für mein Kommen.
    Sophia lächelte mich an, doch es wirkte gezwungen. »Wie geht es dir, Anya?« Sie drückte mir einen Kuss auf jede Wange. Ihre Kieferknochen prallten gegen meine. »Wir wollten dich eigentlich besuchen, seit du zurück bist, aber wir hatten so viel zu tun mit Yuri. Wie hat es dir im Ausland gefallen?« Sie senkte die Stimme. »Bei meinen Verwandten?«
    »Sie waren wunderbar«, erwiderte ich. »Danke.«  
    »Du und ich,

Weitere Kostenlose Bücher