Edelherb: Roman (German Edition)
Mutter, das Win an mir immer so gemocht hatte. Ich hatte eine schwarze Hose ausgesucht – ich befand mich gerade in einer Hosenphase –, dazu die Corsage, die Scarlet vor langer Zeit im Little Egypt angehabt hatte. Ich war oben aufreizend und unten konservativ gekleidet. In Wahrheit war ich stolz darauf, wie meine Arme und Schultern nach all der Arbeit auf der Plantage aussahen. Da Daisy Gogol uns begleitete, widerstand ich dem Bedürfnis, als Accessoire meine Machete mitzunehmen. Daisy war zu groß, um sich Kleidung von uns auszuleihen, doch es stellte sich heraus, dass sie selbst genug hatte. Sie trug ein verrücktes Milchmädchenkleid und einen Helm mit Hörern. »Altes Opernkostüm«, erklärte sie. »Das wird bestimmt so lustig!« Sie klatschte in die Hände.
Mit dem Bus fuhren wir zu Wins Haus. Das Komische war, dass ich bisher nur zweimal dort gewesen war, denn aus naheliegenden Gründen – in anderen Worten: wegen Charles Delacroix – hatten wir die Wohnung gemieden.
Jane Delacroix gehörte zu den Menschen mit einem geschickten Händchen, wie man das wohl nannte. Sie konnte aus allem etwas Schönes zaubern, und zum Geburtstag ihres einzigen Sohnes hatte sie das auch getan. Zur Dekoration hatte sie Obst unter die Decke gehängt. Überall standen Kerzen und beleuchteten die Räume. Dann gab es natürlich eine Theke und eine Band. Ehrlich gesagt, bezweifelte ich jedoch, dass Win überhaupt merkte, welche Mühe seine Mutter sich gegeben hatte. Er war ein Junge, und er hatte nie ohne eine Mutter gelebt.
Dank Wins Mutter waren mit Ausnahme von Gable Arsley alle gekommen, mit denen ich jetzt normalerweise in der Abschlussklasse gewesen wäre. Die meisten von ihnen hatte ich seit dem Abend meiner verhängnisvollen Willkommensfeier nicht mehr gesehen. Chai Pinter stürzte als Erste auf mich zu und plapperte los: »Oh, Anya, du siehst ja super aus! Ich freue mich so, dich zu sehen!« Sie umarmte mich, als seien wir die besten Freunde. »Ich habe mir die ganzen Monate solche Sorgen um dich gemacht! Wo bist du gewesen?«
Als ob ich das der größten Klatschtante der Klasse verraten würde. »Hier und dort«, lautete meine Standardantwort.
»Na, immer noch so verschlossen wie früher! Und, was hast
du
nächstes Jahr so vor?«
Werde wohl den einen oder anderen Mord an Verwandten in Auftrag geben,
dachte ich. »Hierbleiben«, sagte ich.
»Das ist ja cool! Ich bin schon an der NYU angenommen, das heißt, ich bleibe auch in der Stadt! Wir müssen wirklich mal was zusammen unternehmen!«
An der New York University? Meine Mutter war auch dort gewesen. Die Vorstellung, dass die dämliche Chai Pinter zur NYU ging, erfüllte mich mit unerklärlichem Abscheu. Ich wusste, dass ich mich eigentlich für sie freuen sollte. Warum konnte ich das nicht? Chai Pinter war eine Tratschtante, aber sie war durchaus nett, strengte sich in der Schule an und …
»Was meinst du: Machst du dir überhaupt die Mühe, die Highschool abzuschließen?«, fragte sie mich.
»Ich habe einen Privatlehrer. Ich lerne gerade für die Prüfungen.«
»Wie schön für dich! Du bekommst bestimmt Bestnoten. Du warst immer so schlau.«
Ich sagte Chai, ich würde mir etwas zu trinken holen, ging durch den Raum und wurde als Nächstes von Alison Wheeler angesprochen. »Annie«, sagte sie. »Inzwischen weißt du wohl, dass ich doch nicht deine Nachfolgerin war.« Sie trug ein hautenges schwarzes Kleid und gelbe High Heels. Ein ganz neuer Look für sie.
Ich lachte. »Ihr beide habt mir was vorgespielt.«
Sie flüsterte mir ins Ohr: »Ich meine, ich mag Win, aber er ist nicht so ganz mein Typ. Du bist viel eher mein Typ.«
»Oh!«
»Im Allgemeinen. Im Besonderen gefällt mir deine Freundin Scarlet. Aber Trinity ist so langweilig katholisch. Ich kann es nicht erwarten, aufs College zu gehen. Ich hab ja nur versucht, Charles Delacroix im Wahlkampf zu helfen. Diese Bertha Sinclair ist ein Ungeheuer.«
Immerhin saß ich nicht in Liberty ein,
dachte ich.
»Doch, wirklich, Annie. Sie wird dafür sorgen, dass es bald kein Wasser mehr gibt, alle großen Firmen müssen an sie abdrücken, sie dürfen die Umwelt verschmutzen und müssen keine Steuern zahlen, diese Frau ist absolut korrupt. Charles Delacroix ist auch nicht perfekt, aber … er ist gut.« Sie wies quer durch den Raum auf Win, der sich mit einer älteren Frau unterhielt. »Immerhin hat er den da großgezogen, nicht?«
»Kann sein.«
Alison fing an, über das College zu reden, denn offenbar
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