Edelweißpiraten
Letzte Woche. War ja groß genug angekündigt. Anscheinend haben die Nazis gemerkt, dass es mit der Stimmung nicht weit her ist. Wegen Stalingrad und wegen den ständigen Luftangriffen. Goebbels hat versucht, alles runterzuspielen. Was die Engländer in ihren Flugblättern behaupten, ist Blödsinn, hat er gesagt. Und dann hat er das Publikum gefragt, ob sie an den Sieg glauben und ob sie den totalen Krieg wollen und Vertrauen zum Führer haben und das ganze Zeug. Jedes Mal haben sie »Ja!« gebrüllt. Am Ende hat er gefragt, ob sie einverstanden sind, dass alle Drückeberger und alle, die was gegen den Krieg haben, den Kopf verlieren. Und wieder haben sie »Ja!« geschrien.
»Passt auf, die schrecken bald vor gar nichts mehr zurück«, hat Flint gesagt. »Wer aufmuckt, wird ’n Kopf kürzer gemacht. Das geht ab jetzt immer der Reihe nach.«
»Habt ihr gehört, dass die in München nicht nur Flugblätter verteilt, sondern auch was an die Häuser gepinselt haben?«, hat Flocke gefragt. »Nieder mit Hitler! und noch andere Sachen.
Sind nachts rumgeschlichen und haben’s heimlich hingeschrieben.«
»Verdammt mutig von ihnen«, hat Flint gemeint. »Obwohl’s Studenten waren. Hätte ich denen gar nicht zugetraut.«
Wir können Studenten nicht besonders leiden. Weil’s alles Gymnasiasten sind. Und weil wir – egal, wie sehr wir uns anstrengen – niemals da hinkommen, wo sie sind. Aber das, was die in München gemacht haben, ist ganz schön stark. Die haben echt was weg gehabt, da sind wir uns einig.
»Wisst ihr, warum die sich Weiße Rose genannt haben?«, hat Tilly gefragt.
»Ich glaub, das kommt aus der Jugendbewegung«, hat Goethe geantwortet. »Die hatten eine weiße Blume als Symbol. Wahrscheinlich haben sie’s von da. Genau wie wir unser Edelweiß.«
Tilly hat große Augen gekriegt. »Das heißt: Wir sind irgendwie mit denen verwandt?«
»Ja«, hat Goethe gesagt. »Irgendwie schon.«
15. März 1943
Die Sache, die wir gemacht haben, hat mächtig Staub aufgewirbelt. Mehr, als wir dachten. Was einerseits gut ist, denn die Leute aufzurütteln war ja der Zweck des Ganzen. Aber andererseits: Wer weiß, was noch draus werden kann!
Angefangen hat alles letzte Woche. Wir haben am Bunker gesessen und drüber geredet, was wir dieses Jahr machen wollen. Dann haben die Sirenen geheult, und wie üblich kamen die Leute aus allen Richtungen angelaufen. Aber es war Fehlalarm. Schon nach ein paar Minuten gab’s Entwarnung, und alle konnten wieder gehen. Manche haben geschimpft wie die Kesselflicker. Man konnte richtig sehen, wie’s in ihnen brodelt.
»Hey Leute, volle Deckung!«, hat Frettchen gesagt. »Der Opa da hinten explodiert gleich. Der ist heiß wie ’ne Brandbombe!«
Er hat auf einen Mann gezeigt, der mit seinem Koffer aus dem Bunker kam und lauthals vor sich hin schimpfte. Seine Frau ist mit zwei Klappstühlen neben ihm gegangen und hat ihm ins Ohr gezischt, damit er ruhig ist. Aber er hat gesagt, er hätte verflucht noch mal keine Lust, ruhig zu sein, und hat weitergemacht. Die anderen sind an ihm vorbeigetrottet. Kaum einer hat sich getraut, ihn anzusehen.
»Typisch«, hat Flint gesagt und auf sie gezeigt. »Nichts sehen, nichts hören, nichts wissen. Aber merkt ihr was? Die Stimmung war noch nie so beschissen wie jetzt. Und mit jedem Alarm wird sie noch ’n Stück beschissener.«
Wir haben beobachtet, wie die Leute abzogen. Sie hatten wirklich verdammt miese Laune. Aber die meisten wirkten so furchtbar gleichgültig dabei. Als wenn sie sich schon fast mit ihrem Schicksal abgefunden hätten.
»Vielleicht ist es an der Zeit, ’n bisschen nachzuhelfen«, hat der Lange gesagt. »Was die Stimmung angeht.«
»Wie meinst du das?«, hat Flocke gefragt.
»Na, ihr habt Goebbels gehört, oder? Mit seinem Gerede vom totalen Krieg. Ist doch nicht schwer, sich vorzustellen, was das heißt: Die machen weiter. Bis zum bitteren Ende. Bis kein Stein mehr auf dem anderen ist. Bis keine Sau mehr aus dem richtigen Loch pfeift. Und ich finde, wir können nicht einfach zusehen dabei. Oder sollen wir hier sitzen und drauf warten, dass es uns auch erwischt? Ich sag euch: Wenn’s jetzt nicht an der Zeit ist, was dagegen zu tun, dann gibt’s überhaupt keine Zeit dafür!«
Das hat gesessen, danach ist es erst mal ruhig gewesen. Wir haben dagehockt und über das, was er gesagt hat, nachgedacht. Irgendwie hat jeder gespürt, dass er recht hat. Aber wir haben’s nicht richtig zugeben wollen. Bei mir war’s jedenfalls
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