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Edelweißpiraten

Edelweißpiraten

Titel: Edelweißpiraten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dirk Reinhardt
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hatte. Aber als ich ihn fragte, ob er ein Foto aus der Zeit besitze, schüttelte er den Kopf.
    »Wir haben keine Fotos gemacht«, sagte er nur. »Das mussten wir Flint versprechen. Und wir haben uns daran gehalten.«
    Ich fragte mich, was für ein Gefühl es wohl war, auf ein so langes Leben zurückzublicken. War einem der Junge, der man vor siebzig Jahren gewesen war, inzwischen fremd – fast wie ein anderer Mensch? Oder gab es da etwas, tief in einem drin, an irgendeinem geheimen kleinen Ort, das sich nie änderte, das immer gleich blieb vonder Geburt bis zum Tod, so wie der Name oder die Farbe der Augen oder das Muttermal auf dem Rücken? War man sich noch vertraut nach all der Zeit? Erkannte man sich wieder? Und wem ähnelte der alte Mann wohl mehr: einem anderen Greis von heute oder dem Jungen von damals? All das ging mir durch den Kopf, wenn ich an dem einen Tag die Aufzeichnungen des jungen Josef Gerlach las und ihn am nächsten Tag als alten Mann traf.
    An einen dieser Tage erinnere ich mich besonders gut. Ich saß für eine Weile allein im Zimmer, während der alte Gerlach auf der Toilette verschwunden war. Ich dachte darüber nach, wie umständlich und langwierig selbst die einfachsten Dinge wurden, wenn man alt war. Jeder Gang auf die Toilette war ein kleines Abenteuer, eine Art Erlebnis des Tages. Anfangs hatte ich mich vor diesen Begleiterscheinungen des Alters geekelt, so wie vor dem Geruch in der Eingangshalle. Aber inzwischen war ich daran gewöhnt, es machte mir nichts mehr aus.
    Während ich am Tisch saß und auf die Rückkehr des Alten wartete, blickte ich durch das Fenster hinunter in den Garten des Wohnheims. Auf dem Rasen und den Bäumen lag Schnee, nur die Wege waren geräumt. Normalerweise ging dort selten jemand spazieren, aber jetzt sah ich eine Gestalt zwischen den Büschen. Sie stand da und blickte herauf, und obwohl ich ihr Gesicht und ihre Augen nicht erkennen konnte, weil sie dick vermummt war, hatte ich den Eindruck, dass unsere Blicke sich trafen.
    Ich wandte mich ab und blätterte eine Weile in der Zeitung, die auf dem Tisch lag. Dann sah ich wieder in den Garten. Sie war noch immer da. Ich stand auf und ging zur Balkontür, öffnete sie und trat hinaus. Doch als ich mich über das Geländer beugte, war die Gestalt verschwunden.Ich suchte den ganzen Garten ab, aber sie war nicht mehr zu sehen. Alles war menschenleer.
    Verwundert schüttelte ich den Kopf. Seit wann hatte ich Halluzinationen? Ich sah noch einmal hinunter, dann ging ich zurück in die Wohnung. Der alte Gerlach wartete schon auf mich.

4. Februar 1943
    Im Moment gibt’s für die Leute nur ein Thema: Stalingrad. Wochenlang waren unsere Soldaten eingekesselt. Jetzt mussten sie aufgeben und gehen in Gefangenschaft. Das heißt: die, die übrig sind. Die meisten sind tot. Erschossen, verhungert, erfroren. Elendig krepiert. Kann sich keiner vorstellen, was die durchgemacht haben. Will sich auch keiner vorstellen.
    Es geht das Gerücht, dass die meisten umsonst gestorben sind. Die Russen hätten viel früher zur Kapitulation aufgefordert. Die Generäle auch, weil alles aussichtslos war – nur Hitler nicht. »Ein deutscher Soldat kapituliert nicht«, hat er gesagt und lieber alle in den Tod geschickt. Die Leute sind wütend, wenn sie so was hören.
    Im Radio sprechen sie wieder vom »Heldentod« und dass wir’s den Russen jetzt zeigen. Nur will das keiner hören. Ich weiß nicht, wie’s woanders ist, aber hier in Ehrenfeld glauben die Leute nicht mehr an so was. Wir haben’s doch von Anfang an gewusst, sagen sie. Dass gegen die Russen nicht anzukommen ist. Jetzt kriegen wir die Quittung.
    Vom Endsieg träumt hier keiner mehr, die Zeiten sind vorbei. Alles, was die da oben tun, zögert das böse Erwachen nur raus, heißt es. Und eigentlich wär ab jetzt jede Niederlage wie ein Sieg. Weil’s dann schneller vorbei ist.

24. Februar 1943
    Es gibt böse Nachrichten. In München sind Studenten hingerichtet worden, weil sie heimlich Flugblätter gegen die Nazis und den Krieg verteilt haben. »Weiße Rose« haben sie sich genannt. Ein Hausmeister hat sie verpfiffen, dann hat die Gestapo sie einkassiert. Der Volksgerichtshof hat sie zum Tod verurteilt, wegen Wehrkraftzersetzung und Hochverrat.
    »Jetzt wissen wir auch, was Goebbels gemeint hat«, hat Tom gesagt, als wir uns heute am Bunker getroffen haben. »Mit den Drückebergern. Und mit denen, die den Kopf verlieren.«
    Wir hatten die Rede, von der er sprach, im Radio gehört.

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