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Edelweißpiraten

Edelweißpiraten

Titel: Edelweißpiraten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dirk Reinhardt
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wirf das weg! Wenn sie das finden, bist du erledigt!«
    »Sie werden’s aber nicht finden«, hat Flocke gesagt. »Ich hab’s nämlich an ’ner Stelle, wo kein anständiger SS-Mann nachsieht. Und so ’n HJ-Bengel schon mal gar nicht.«
    Dann hat sie vorgelesen, was auf dem Flugblatt stand: »Englands Angebot: Gerechtigkeit für alle, auch die Deutschen; Bestrafung der Verbrecher; wirtschaftliche Gleichberechtigung und Sicherheit. Englands Forderung: Das deutsche Volk muss selbst handeln, um sich von Hitlers Gangsterherrschaft zu befreien. Das deutsche Volk hat die Wahl.«
    Tom, der neben ihr saß, hat sie von der Seite angesehen. »Du meinst, sie hoffen auf so ’ne Art Volksaufstand?«
    »Ja! Wär doch das Einfachste für sie, dann können sie sich den Krieg sparen. Und ich sag euch, das ist der Grund, warum sie die Arbeiterviertel bombardieren. Weil sie glauben, dass sie hier am ehesten Erfolg haben. Und das stimmt ja auch: Die Wut der Leute auf die Nazis wird mit jedem Angriff größer.«
    Sie hat das Flugblatt weggesteckt. Wir haben ’ne Zeit lang dagesessen und uns die Sache durch den Kopf gehen lassen. Alle fanden’s einleuchtend, was sie gesagt hat.
    »Was passiert eigentlich mit den Flugblättern?«, hat Goethe irgendwann gefragt.
    »Sie schicken die HJ rum«, hat Flint geantwortet. »Hab sie mal beobachtet. Die sammeln die Teile ein und zerreißen sie.«
    Der Lange hat ihn nachdenklich angesehen. »Und – wenn wir ihnen zuvorkommen? Wir schnappen uns die Dinger und stecken sie den Leuten in die Briefkästen. Überall, in jedem Haus.«
    »Sonst noch ’ne Idee?« Frettchen hat sich an die Stirn getippt. »Klingel doch gleich bei der Gestapo und lass dich einliefern. Die machen uns platt!«
    »Wieso eigentlich?«, hat Flint gesagt. »Dazu müssten sie erst
mal rauskriegen, wer’s getan hat, und das werden sie nicht. Wir machen’s in der Nacht und stellen Posten auf. Ich find den Vorschlag nicht übel.«
    Kralle war der gleichen Meinung. Aber wir anderen waren nicht so begeistert. Tilly hat gemeint, jetzt hätten wir’s grade geschafft, dass sie uns ’n bisschen in Ruhe lassen, da sollten wir uns nicht gleich wieder neuen Ärger aufhalsen. Tom, Goethe und Maja wollten auch lieber vorsichtig sein, und am Ende ist sogar Flocke die Sache zu heiß gewesen.
    »Ich finde, wir sollten so was nur machen, wenn alle dafür sind«, hat sie zu Flint und dem Langen gesagt. »Weil, wir gehören doch zusammen, oder? Und bei so ’ner Sache sollten entweder alle dabei sein – oder keiner.«
    Damit hat sie natürlich verdammt recht gehabt. Das musste auch Flint zugeben, und deshalb haben wir nicht weiter über die Sache gesprochen. Wir waren noch ein, zwei Stunden wach, dann haben wir uns schlafen gelegt.
    Die anderen waren ziemlich schnell weg, aber ich hab noch ’ne Zeit gebraucht und über alles Mögliche nachgegrübelt. Auf der einen Seite von mir hat Tom geschnarcht, auf der anderen hab ich Tilly atmen hören. Ich musste dran denken, was in letzter Zeit alles passiert ist. So viel hat sich verändert. Alles ist ernster und härter geworden. Nicht mehr so lustig und unbeschwert wie im letzten Jahr.
    Ich hab mich aufgesetzt und die anderen angesehen. Alle haben kreuz und quer dagelegen. Neben- und über- und durcheinander, wie sie grade eingeschlafen waren. Ich musste lachen. Jetzt sind wir wirklich ein bisschen wie Piraten, hab ich gedacht. Heimatlos. Hin und her geworfen wie ein kleines Schiff auf hoher See. Aber es ist in Ordnung. Immerhin haben wir uns. Wir haben Freunde, und wir halten zusammen. Und das ist mehr, als die meisten Leute von sich behaupten können.
    In diesen beschissenen Zeiten.

 
    Es war inzwischen Mitte Dezember. Während alle anderen in vorweihnachtlicher Stimmung waren, hatte ich es mir zur Gewohnheit gemacht, alle paar Tage bei dem alten Gerlach vorbeizuschauen. Das Wohnheim, in dem er lebte, wirkte zwar immer noch genauso ungastlich wie vorher, aber ich achtete nicht mehr auf den Geruch und den mürrischen Pförtner und die aufdringliche Hausordnung und die anderen Dinge, die mich bei meinem ersten Besuch noch abgeschreckt hatten. Etwas anderes war wichtiger. Ich begann zu spüren, dass zwischen dem Alten und mir – so unterschiedlich wir waren – etwas existierte, das uns zusammenhielt. Irgendeine Verbindung, die ich mir selbst nicht erklären konnte.
    Seine Tagebuchaufzeichnungen faszinierten mich. Ich versuchte mir vorzustellen, wie er damals – als Junge – wohl ausgesehen

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